Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tagebuch 1946-1949 (German Edition)

Tagebuch 1946-1949 (German Edition)

Titel: Tagebuch 1946-1949 (German Edition)
Autoren: Max Frisch
Vom Netzwerk:
wenn mitten auf dem Platz ein Wunder geschähe; so sicher wissen sie, daß keines geschieht. Man könnte ihnen sagen, hinter dem Kaukasus gebe es ein Land, das sie aufnehmen werde, und sie sammelten ihre Schachteln, ohne daß sie daran glaubten. Ihr Leben ist scheinbar, ein Warten ohne Erwartung, sie hangen nicht mehr daran; nur das Leben hangt noch an ihnen, gespensterhaft, ein unsichtbares Tier, dashungert und sie durch zerschossene Bahnhöfe schleppt, Tage und Nächte, Sonne und Regen; es atmet aus schlafenden Kindern, die auf dem Schutte liegen, ihren Kopf zwischen den knöchernen Armen, zusammengebückt wie die Frucht im Mutterleib, so, als wollten sie dahin zurück.

Zur Schriftstellerei
    Im Grunde ist alles, was wir in diesen Tagen aufschreiben, nichts als eine verzweifelte Notwehr, die immerfort auf Kosten der Wahrhaftigkeit geht, unweigerlich; denn wer im letzten Grunde wahrhaftig bliebe, käme nicht mehr zurück, wenn er das Chaos betritt – oder er müßte es verwandelt haben.
    Dazwischen gibt es nur das Unwahrhaftige.

Harlaching, Mai 1946
    Seit zwei Wochen wohne ich bei jungen Deutschen, die ich vorher nicht einmal dem Namen nach kannte. Ihre Gastfreundschaft, ganz ohne Gewicht, erinnert an glückliche Reisen von früher und wiederholt die Erfahrung, daß jedes andere Volk, was Gastfreundschaft betrifft, begabter scheint als das unsere. Vielleicht hangt es mit den geringen Entfernungen zusammen, die in unserem Lande vieles bestimmen; vor allem aber mit dem Umstand, daß wir aus der Gastfreundschaft, die zu den schönsten Regungen gehört, ein Gewerbe machen mußten. Jedenfalls fühle ich mich in diesem Hause leichter und freier, selbstverständlicher, als wenn ich bei Landsleuten wohne. Nur beim Essen hat man Hemmungen, und es fällt auf, daß die Leute alles, was sie bekommen, sofort verbrauchen; wer weiß, was morgen ist?
    Gestern sprachen wir wieder eine halbe Nacht lang; später erschien auch noch der alte Herr, der nebenan nicht schlafen konnte. Sein gestreiftes Pyjama, sein nackter Hals erinnern an Bilder, die man kennt; in der Tat, wie ich zum ersten Mal erfahre,ist er sechs Jahre in Dachau gewesen. Aber nicht davon erzählt er, sondern von der Zeit davor, von den Ursachen.
    »Darüber waren wir uns im Lager einig, daß es nicht die Schuld unsrer Söhne gewesen ist, und wenn sie siebenmal dabei waren –.«
    Um drei Uhr ins Bett.
     
    Heute, als ich in die Stadt will, stehe ich plötzlich vor einem Stacheldraht, der sich um das ganze Quartier zieht; ein Geschenk der Nacht. Ein paar feldgraue Gefangene, die unter Aufsicht arbeiten, verknüpfen gerade noch die letzten Rollen; daneben stehen die Wachen mit Gewehr. Überall andere Gerüchte, Erregung und Erbitterung, Schweigen vor den Panzerwagen, Maschinengewehre mit blanken Gurten –.
     
    Der junge amerikanische Offizier:
    »Wenn mir einer an die Gurgel springt und ich schlage ihn zu Boden, so tue ich es nicht, weil ich mich als seinen Lehrmeister betrachte, weil ich mir einbilde, ich könnte ihn ändern, oder weil ich ihm beweisen will, daß ich selber keine Fehler habe – sondern ich tue es, damit er mich nicht erwürgt.«
     
    Noch einmal habe ich den Mann gesucht, dem ich Grüße und anderes bringen sollte; die Adresse, die genaue, führt mich auf ein Podest, wo es plötzlich keine Stiegen mehr gibt, und wenn man hinaufschaut, ist es wieder die Bläue mit ziehenden Wolken darin. Es riecht nach Aborten, die vermutlich keinen Anschluß mehr haben, aber benutzt werden; offenbar ist die Ruine doch bewohnt. Einmal klopfe ich an eine Türe, und da sich niemand meldet, drücke ich auf die verstaubte Klinke, öffne und sehe neuerdings auf die Straße hinaus; eine Runse von Schutt, Balken darin, und da ich es betrachtet habe, ziehe ich die Türe wieder zu, versuche es bei der nächsten, wo wirklich jemand erscheint, ein älterer Herr, der mich mit Formen empfängt, die den Gestank vergessen lassen. Leider hat er keine Ahnung; nicht einmal den Namen kennt er –.
     
    Später wieder an die Isar.
    Das Gefühl, daß es nie stimmt, wenn wir von ganzen Völkern sprechen, und daß alle Einsichten, die man in dieser Art verallgemeinert, mehr Unheil stiften als anderes – wo könnte es wacher sein als in der Nähe einer jungen Frau, die ein Kind erwartet, in der Gegenwart eines Geschöpfes, das überhaupt noch ohne Gesicht ist? Leider verraten meine Schuhe und meine Aussprache, daß ich aus der Schweiz komme; immerhin ergibt sich ein Gespräch; gelegentlich
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher