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Tagebuch 1946-1949 (German Edition)

Tagebuch 1946-1949 (German Edition)

Titel: Tagebuch 1946-1949 (German Edition)
Autoren: Max Frisch
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versucht: Wenn du in einer solchen Zelle leben müßtest? und dann ist Bimba gekommen, begeistert von einem Kreuzgang, man ist hinuntergegangen, hat Fresken bewundert, langsam ist man hinausgegangen, Sonne auf einer Piazza, gegenüber ein kleines Ristorante. Die Fresken: Sebastiano mit den Pfeilen im Leib, ein Kindermord zu Bethlehem, ein Christophorus, die drei bekannten Kreuze auf Golgatha, viel bittere Geschichten, aber schön. Wölfflin fällt ihm ein! Und so weiter. Zum Glück sind die Kinder schon groß. Manchmal steht Schinz einfach an der Wand, die Arme an der Wand, den Kopf in den Armen, so daß er nichts sieht; mit offenen Augen. Der Himmel ist zum Verzweifeln. Schlafen geht nicht. Träume machen alles so maßlos. Einmal wird das Essen kommen. Dann wird es sich zeigen, ob es Gendarmen sind oder Wärterinnen, Gefängnis oder Irrenhaus. Das ist seine einzige Angst. Wenn du nirgends auf der Welt ein voller Zeuge mehr bist. Als sie kommen, die Schritte, nimmt er den Kopf nicht von der Wand; die Türe geht auf, Schinz bleibt so, die Türe geht zu. Schinz schaut: ein Geschirr ist da, ein blechernes, aber sauber, Kartoffelsuppe und Brot, ein etwas komisches Gefäß mit frischem Wasser … Wochen wie Jahre, Jahre wie Wochen, Verhöre, die sich wörtlich wiederholen, Namen, die Schinz nicht kennt, hin und wieder ist er durchdrungen vom Bewußtsein, daß alles nur ein Traum ist, aber das ändert nichts daran; sooft er erwacht, sieht er das Gitter vor dem Himmel, und jeden Morgen, wenn es grau wird, hört er, wie die Hähne krähen –.
    Endlich ist es soweit.
    Eines Tages sieht sich Schinz, wie er es von Bildern kennt, inHemd und Hose und mit einem kleinen Strick um die Handgelenke. Er ist nicht allein. Sie stehen in einem Schulhaushof, Kies, die Kastanien blühen mit weißen und roten Kerzen. Stunden ohne Ahnung. Die Soldaten, die sie bewachen, tragen eine Uniform, die Schinz noch nie gesehen hat; die Historie, scheint es, hat sich wieder einmal gewendet, die Mützen sind anders, der Schnitt der Hosen, anders ist auch die Art, das Gewehr zu tragen. Es ist schon ziemlich hell, aber vor Sonnenaufgang. Was Schinz, übrigens der einzige Deutschsprechende in seiner Gruppe, mehr beschäftigt als die unbekannten Uniformen, ist der kleine Hühnerhof des Hauswartes, wo er zum ersten Male die beiden bekannten Hähne sieht, die er jeden Morgen gehört hat! noch haben sie nicht gekräht … Auf der Treppe der Turnhalle erscheint ein Mann ohne Uniform, ein ziemlich junger Bursche, der eine Armbinde trägt; eine Liste verlesend:
    »Stepanow, Ossip.«
    »Hier.«
    »Becker, Alexis.«
    »Hier.«
    »Schinz, Heinrich Gottlieb.«
    »Hier.«
    Die übrigen blicken auf den Kies. Je ein Soldat führt die eben Gerufenen aus ihrer Gruppe. Hinüber in die Turnhalle, die immer noch, obschon es tagt, hell erleuchtet ist. Natürlich wird nicht gekreuzigt, sondern erhängt. Die Vorrichtung ist lächerlich einfach, fast schulbubenhaft; drei Ringseile sind heruntergelassen, daran je ein ziemlich dünner Strick mit einer Schlaufe. Darunter je ein flüchtig genagelter Holzblock mit drei Stufen. Schinz denkt: Das kann aber nicht euer Ernst sein! ohne sich jedoch eine Hoffnung zu machen, daß es deswegen nicht stattfinden werde. Auch darüber ist Schinz sich klar, daß er nie mehr erfahren wird, worin sein Verbrechen eigentlich bestanden hat. Irgendwie spielt es wirklich keine Rolle; so weit ist er schon gekommen. Wieder vergeht eine Weile. Die drei Gerufenen sind so gestellt, daß sie sich den Rücken zuwenden, einander nicht sprechen und nicht sehen können. Schinz sieht einen Tisch, gemacht aus zwei Hürdenund einem Brett, darauf ein Eisenstab, zwei Handschuhe, wie die Schweißer sie haben, drei kleine Schnappzangen, ein Bunsenbrenner, ein vielfach verglühter Draht, das genügt, damit läßt sich foltern, soviel man nur will. Eine Uniform spricht mit einer Art von Arzt, der mehrmals die Achseln zuckt. Dann, da die beiden offenbar zu keinem Ende kommen, wendet sich die Uniform, drei Fotos in der Hand; jeder wird nochmals mit seinem Foto verglichen. Dann kommt der junge Bursche mit der Armbinde, weist ihnen die Plätze an. Links Becker, Stepanow in der Mitte, rechts Schinz. Die Schlaufe sollen sie sich selber um den Hals legen – es ist wirklich der Förster. Er sagt:
    »Warum haben Sie mich verraten?«
    Schinz hat keine Stimme.
    »Warum haben Sie mich verraten?«
    Der Förster hilft ihm, vorwurfslos, so wie er dem armen Becker schon geholfen hat,
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