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Tagebuch 1946-1949 (German Edition)

Tagebuch 1946-1949 (German Edition)

Titel: Tagebuch 1946-1949 (German Edition)
Autoren: Max Frisch
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kannst du unterzeichnen, wenn es fertig ist; es sind da noch einige Fragen.
    »Herr Doktor«, sagt der Kommissar, das noch bescheidene Dossier öffnend, und sein Ton, wenn er Doktor sagt, ist nicht etwa höhnisch, sondern durchaus achtungsvoll, da der gewöhnliche Landstreicher nun entlarvt ist als ernsthafter Fund: »Sie haben Verbindungen zu einem gewissen Becker?«
    Schinz stutzt.
    »Becker, Alexis, Emigrant.«
    Schinz schweigt.
    »Ja oder nein?«
    Schinz schweigt.
    »Bitte«, lächelt der Kommissar: »vielleicht erinnern Sie sich, wenn ich Ihnen das Bild zeige –.«
    Schinz hat das Gefühl, rot zu werden.
    »Das Bild ist allerdings alt«, sagt der Kommissar: »Ihr Freund trägt keinen Schnurrbart mehr, soviel wir wissen.«
    Schinz schweigt.
    »Ich will Sie nicht überrumpeln, Herr Doktor, Sie werden Zeit genug haben, sich alles zu überlegen«, sagt der Kommissar mit dem fast kollegialen Ton von Todfeinden, die ihre Spielregeln kennen: »Ferner kennen Sie sehr wahrscheinlich einen gewissen Marini …«
    »Marini?«
    »Francesco Marini.«
    »Nein –«
    »Oder Stepanow.«
    »Stepanow?«
    »Ossip Stepanow.«
    »Nein!«
    »Oder Espinel.«
    »Nein!« sagt Schinz.
    »Roderigo Espinel.«
    »Nein!« sagt Schinz.
    »Seine Namen tun nichts zu Sache«, sagt der Kommissar: »Aber wenn Sie ihn kennen, erinnern Sie sich an sein Gesicht – ein sehr markantes Gesicht, das hat noch keiner vergessen, der ihn einmal gesehen hat.«
    Und damit gibt er das Foto:
    »Ein fertiger Christuskopf!«
    Schinz erbleicht …
    »Sie erinnern sich, Herr Doktor?«
    Schinz hält das Foto: der Förster, der Lodenmantel – Man will mich wahnsinnig machen, denkt er, man will mich wahnsinnig machen! – Er steht in dem Lodenmantel, ein Förster am Sonntag,der sich vor seine Stämme stellt und eine Aufnahme machen läßt, etwas verlegen, ein schlechtes Foto, aber deutlich, ein dilettantisches Foto. Schinz legt es auf den Tisch zurück, unwillkürlich und etwas rasch, so, als verbrenne es seine Finger oder als wäre es schwer wie ein Stein … Der Kommissar hat sich unterdessen eine Zigarette genommen, zündet an; jetzt sagt er:
    »Kennen Sie den Menschen?«
    Die Zelle, die Schinz bekommt, ist ganz ordentlich. Sie hat sogar Sonne, ein etwas hochgelegenes Fenster, so daß man nichts von der Welt sieht, nur einen Kamin, nämlich wenn Schinz auf seiner Pritsche steht. Die Pritsche ist hart, aber sauber, nicht unwürdig. Drei Uhr mittags verschwindet die Sonne; kurz danach hört man eine Turmuhr. Schinz findet es schon viel, daß er nicht gegen eine Mauer sieht, womöglich noch eine Schattenmauer, sondern gegen den Himmel. Seine Zelle ist offenbar im obersten Stockwerk; jedenfalls hört man oft das Geflatter der Tauben, hin und wieder schwirrt eine vor dem Gitter vorbei. Manchmal ist Schinz ganz heiter: Man muß halt nicht über die Grenze schleichen! sagt er sich. Die Zelle ist klein; es erinnert ihn an das bekannte Kloster in Fiesole. Überhaupt die Erinnerungen! Seine erste Angst, als er an dieser Stelle sitzt: Jetzt nicht den Glauben an deine Unschuld verlieren! Das Foto mit dem Förster, sagt er sich, ist eine Hysterie gewesen; er hat es ja kaum wirklich betrachtet; er ist erschrocken und hat es weggelegt. Erschrocken über einen Lodenmantel, wie es Tausende gibt! Das Gesicht, sagt Schinz sich mit Recht, hat er damals gar nicht so deutlich gesehen; es war ja schon Dämmerung, dann sogar Nacht. Laß dich nicht irrsinnig machen! Und wenn schon, denkt er ein anderes Mal, wenn er es wirklich gewesen wäre: was habe ich verbrochen? Ich habe ihn gesehen, gut, ich habe mit ihm geplaudert, gut, vor allem hat er geplaudert. Was weiter? sagt Schinz, indem er plötzlich in seinem Hin und Her wieder stehenbleibt: Was geht dieser Marini mich an oder dieser Stepanow oder wie er heißt? Dann legt er sich auf die Pritsche: Man will mich irrsinnig machen, sagt er sich ziemlich gelassen, man will mich irrsinnig machen. Draußen hört man das Gackern von Hühnern. Irgendwieschön. Ein Fenster voll Himmel; das Gitter davor ist nicht so schlimm; Schinz hat ja keine Absicht, hinunterzuspringen in den Tod oder hinauszufliegen über die Kamine. Einmal, denkt er, wird ein Gericht stattfinden. Hin und wieder hört man auch das Hupen von Wagen, aber ziemlich ferne; jenseits von Bäumen, jenseits eines Hofes oder so. Das ganze Gebäude, wer weiß, war vielleicht einmal ein Kloster; Schinz hat auf seinen Reisen so viele alte Klöster besucht, sich manchmal vorzustellen
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