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Tag vor einem Jahr

Titel: Tag vor einem Jahr
Autoren: C Geraghty
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befindet sich ein attraktiver Körper, der nach ein wenig Calvin Klein schreit«, hatte sie mehr als einmal gesagt.
    Ich schloss das Buch und stellte es an seinen Platz zurück. Dann ließ ich meine Finger über die Buchrücken gleiten, bis ich am Ende des Regals angekommen war. Ein dünnes Buch stand verkehrt herum da. Ich holte es aus dem Regal: Trauerarbeit. Ein praxisorientierter Wegweiser. Der Buchumschlag, zerknittert und zerrissen, zeigte die Weiten eines ruhigen Ozeans, der vom Vollmond beschienen wurde. Der Autor war eindeutig Amerikaner. Es gab eine Widmung: Bernard, ich finde, das hier hilft. Wir bleiben in Verbindung. Alles Liebe, Cliona xx
    Ich schob das Buch wieder ins Regal zurück, mit glühenden Händen, als hätte ich hier die Grenze zum Privateigentum überschritten.
    Bernard war noch immer am Telefon. Wenn ich genau hinhorchte, konnte ich ihn hören. Er sagte ziemlich oft »ja«.
    Mein Blick fiel auf ein Foto, das in einem mit Muscheln verzierten Rahmen steckte und auf der Kommode in der Ecke stand. Zwei kleine Jungen in Badehosen standen,
die Arme umeinandergeschlungen, vor einem kleinen Schlauchboot, das prall aufgeblasen auf dem Sand lag. Sie sahen einander zum Verwechseln ähnlich, obwohl einer von beiden eine Brille trug. Derjenige mit Brille war etwas kleiner und dünner als der andere Junge. Ich nahm den Bilderrahmen hoch und kam zu dem Schluss, dass es Bernard sein musste. Ich erkannte seine Hände wieder.
    Nach genau sechzig Sekunden kam Bernard zurück. Das haben EDV-Leute so an sich. Wenn sie eine Minute sagen, meinen sie in der Tat sechzig Sekunden. Wenn ich beispielsweise zu meinem Chef sage, ich sei in einer Minute zurück, können Stunden bis zu meiner Rückkehr vergehen. Die Leute scheinen das bei mir zu wissen und sind nie überrascht.
    »Entschuldige bitte«, sagte er.
    Ich ließ den Rahmen los, und das Glas knallte scheppernd auf das Holz der Kommode. Bernard kam mit großen, langsamen Schritten zu mir und streckte seinem Arm aus, um das Bild wieder aufzustellen. Durch das Betttuch hindurch berührte er mit der Armbeuge meine Haut. Er war sehr nah. Mir stockte der Atem. Er beugte sich zu mir, und ich wusste, dass er überlegte, ob er mich küssen sollte. Ich ahnte den Kuss, bevor er passierte, schmeckte ihn. Dann kam ich zu mir und entzog mich Bernard. Er fing sich schnell wieder.
    »Dieses Laken steht dir.« Wenn er lächelte, kerbten sich Grübchen in seine Wangen ein, wie bei Patrick.
    »Wegen letzter Nacht«, platzte ich heraus. Mein schlechtes Gewissen sprudelte aus mir hervor wie Wasser aus einem Bohrloch.
    Bernard sagte nichts, aber er lächelte nicht mehr.
    »Schau«, flüsterte ich. »Es tut mir leid. Ich sollte nicht hier sein, ich weiß nicht, was mit mir zurzeit los ist.« Ich
hielt inne und hoffte, dass er etwas erwidern würde. Er tat es nicht. Ich atmete tief durch.
    »Ich habe einen Freund«, sagte ich. »Shane. Shane ist mein Freund. Ich meine, na ja, er war’s und ist es vielleicht noch … Es ist … es ist ziemlich kompliziert.« Ich verstummte. Schaudernd wurde mir bewusst, wie erbärmlich und lächerlich ich klingen musste.
    »Ich mache uns Kaffee« war alles, was er sagte, bevor er wieder hinausging. Aus der Küche konnte ich das Klappern von Geschirr hören, und ich raffte meine Kleider vom Boden auf. Ich musste so schnell wie möglich hier raus. Bernards weicher Akzent hatte mich aus der Fassung gebracht.
    Offensichtlich konnte ich mich auf nichts verlassen. Weder darauf, dass Shane mich heiratete und liebte, bis dass ich gestorben war, noch darauf, dass Bernard ein Computernerd war und in seinem Buchregal Handbücher zur Programmierung von Intel-Chips stehen hatte. Selbst das Wetter war ein einziger Hohn: Wir hatten März, und die Sonne strömte durch die Schlitze der Holzjalousien und ließ alles golden, hoffnungsvoll und neu erscheinen. Meine Welt befand sich noch im Winter: kalt und trostlos und dunkel.

3
    Nach einer Freitagnacht im kalten Glanz eines Samstagmorgens nach Hause zu gehen, ist eine ernüchternde Erfahrung, was mein Glück war, denn ich war noch immer angetrunken vom Abend zuvor. Um mich von meinen Gedanken an Shane abzulenken, wiederholte ich in meinem Kopf immer wieder die Zeilen: »Ich werde nie wieder nichtabgelaufenen oder gar abgelaufenen Baileys trinken und dann mit jemandem schlafen, der nicht mein Freund ist.« Dreimal – kein Wunder, dass ich erschöpft war.
    Es stellte sich heraus, dass ich mich in Swords befand, was
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