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Tag vor einem Jahr

Titel: Tag vor einem Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Geraghty
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schaute auf die Uhr. Es war 10 Uhr 10. Sollte der Busfahrer endlich seinen Finger herausziehen (und zwar nicht nur aus dem Mund), könnte ich um 10 Uhr 40 in der Brautboutique sein. Ich versuchte ein- und auszuatmen, um mich zu beruhigen, hörte aber damit auf, als ich der Grenze zum Hyperventilieren gefährlich nahe kam.
    Jane war die andere Brautjungfer. Die Älteste. Diejenige, die meine Mutter fürsorglich mit einer Auswahl von Enkelkindern beglückt hatte, damit an ihrem Lebensabend für Unterhaltung gesorgt war. Diejenige, die immer das Richtige tat. Nicht, dass ich etwas gegen Leute habe, die das Richtige tun. Ich stehe im Vergleich nur immer schlecht da, und dagegen habe ich etwas. Jane war bestimmt in
der Brautboutique. Sie war außerdem mit Sicherheit rechtzeitig da gewesen. Sie würde ein Brautjungfernkleid Größe 36 anprobieren und mit sich hadern, weil sie nicht wie Clare Größe 34 hatte. Und Clare würde sagen: »Aber Jane, du hast drei Kinder bekommen, sei nicht so streng mit dir selbst.« Und dann würde ich kommen. Verspätet. Und übergewichtig. Und verkatert. Ein bisschen linkisch, ein bisschen unbeholfen. Auf eine teure Mittelklasseschule geschickt, eine durchschnittliche Schülerin von überdurchschnittlichem Umfang und ebenso überdurchschnittlicher Größe. Auf einem der Zeugnisse stand: »Grace ist in vielerlei Hinsicht herausragend und wird ihren Weg gehen.«
    »Aber wohin?«, jammerte meine Mutter, als auf meinem Zeugnis eine durchschnittliche Note nach der anderen auftauchte. Inzwischen bin ich neunundzwanzig Jahre alt und kenne noch immer nicht die Antwort auf diese Frage. Nachdem ich von der Schule abgegangen war, jobbte ich den Sommer über als Mädchen für alles bei einer Versicherungsgesellschaft. Zehn Jahre später war ich noch immer da, als Mädchen für alles mit Festanstellung.
    Eine kleine alte Dame machte sich auf, um auszusteigen. Sie wackelte wie ein Entenküken, das zum ersten Mal zum Ufer watschelt, den Gang hinunter. Ich beobachtete sie und redete innerlich auf sie ein, den Ausgang in der Mitte des Busses zu nehmen.
    »Geh nicht nach vorne. Bitte geh nicht nach vorne«, bettelte ich in Gedanken. So wie ich den Busfahrer einschätzte, würde er unbarmherzig die vordere Tür zumachen und verkünden, dass sie nur für einsteigende Fahrgäste sei. Sie ging nicht nach vorne und stieg ohne Zwischenfall aus.
    Mit feuchten Händen das Telefon umklammernd rief ich meine Mutter an.

    »Hallo, Mam.« In dem Moment, als sie sich meldete, fing ich sofort an zu sprechen, in dem aufgesetzt fröhlichen Ton eines Menschen, der weiß, dass er etwas ausgefressen hat.
    »Ich bin auf dem Weg, in einer halben Stunde bin ich da, in Ordnung?« Ich drückte mir selbst die Daumen und wartete.
    Es gab keinen Sturm der Entrüstung, das war nicht Mutters Art. Sie seufzte lediglich. Mit ihrem Schweigen drückte sie ihre Enttäuschung über mich stärker aus als mit Worten.
    »Okay, Mam, bis gleich dann.« Ich legte auf und schaute aus dem Fenster, sah zu, wie die Welt an mir vorbeizog, und nahm doch nichts wahr. Ich fühlte mich wie ein Vampir, der gerade festgestellt hat, dass er es vor Tagesanbruch nicht mehr zurück in seinen Sarg schaffen wird. Der Bus fuhr knatternd in die Haltebuchten und spuckte seine Fahrgäste auf den Gehsteig.
    Die Brautboutique lag am Ende einer steilen Treppe über dem Coffee Cave in der Grafton Street. Die Ladenfront bestand ganz aus Glas. Sonnenstrahlen fielen auf die Schaufensterpuppen und verliehen ihnen ein verwundertes Aussehen. Leere Augen lagen in weißen Glatzköpfen. Am anderen Ende des Geschäfts stand meine Schwester in ihrem Hochzeitskleid und wurde energisch von einem Mädchen mit Nadeln traktiert. Das Mädchen war in meinem Alter und trug einen strengen Haarknoten, der ihr die Augen zu Schlitzen langzog.
    »Hi!« Das Mädchen blickte mit einem breiten Lächeln auf. Ich war erleichtert, hatte ich mir doch vorgestellt, dass die Angestellten einer Brautboutique diese hochnäsige Art Menschen waren, die Leute derart einschüchtern konnten, dass sie Kleider anzogen, die wie Sahne-Baisers aussahen, und dazu noch die passenden, mit Stoff überzogenen Schuhe.

    »Grace, wie läuft’s?« Clare schenkte mir ein strahlendes Lächeln. Sie drehte sich so vorsichtig um, wie es für jemanden, der so viele Nadeln an sich trug, ratsam war. Ihr fülliges braunes Haar war am Hinterkopf zu einem prallen Dutt zusammengebürstet worden. Das Faszinierendste an ihr waren ihre

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