Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tag und Nacht und auch im Sommer

Tag und Nacht und auch im Sommer

Titel: Tag und Nacht und auch im Sommer
Autoren: Frank McCourt
Vom Netzwerk:
abzulenken. Ich mag ja ein neuer Lehrer sein, aber auf Joeys Ablenkungsmanöver falle ich nicht rein. Das ist auf der ganzen Welt dasselbe. Das Spiel habe ich in Irland selbst gespielt. Ich war das Sprachrohr meiner Klasse an der Leamy’s National School. Der Lehrer schrieb eine Algebra-Aufgabe oder eine irische Konjugation an die Tafel, und die anderen Jungen zischten mir zu, frag ihn was, McCourt. Bring ihn von dem blöden Zeug ab. Na los, mach schon.
    Dann fragte ich, Sir, hatten die alten Iren damals auch schon Algebra?
    Mr. O’Halloran mochte mich, braver Junge, ordentliche Schrift, immer höflich und gehorsam. Er legte die Kreide weg,
und daran, wie er sich ans Katheder setzte und sich Zeit ließ, bevor er etwas sagte, konnte man sehen, wie froh er war, der Algebra und der irischen Syntax zu entrinnen. Jungs, sagte er, ihr könnt mit Fug und Recht stolz auf eure Vorfahren sein. Lange vor den Griechen, sogar vor den Ägyptern, verstanden sich eure Vorväter in diesem wunderschönen Land darauf, im tiefsten Winter die Strahlen der Sonne einzufangen und sie für ein paar goldene Augenblicke in die dunklen inneren Räume zu lenken. Sie kannten die Bahnen der Himmelskörper, und das hat sie weit hinausgehoben über Algebra und Differentialrechnung, Jungs, weit, weit darüber hinaus.
    An warmen Frühlingstagen nickte er manchmal auf seinem Stuhl ein, und dann saßen wir mucksmäuschenstill und warteten, alle vierzig, bis er aufwachte, trauten uns nicht einmal hinauszugehen, wenn er den Schulschluß verschlief.
    Nein. Ich bin kein Schotte. Ich bin Ire.
    Joey sieht mich treuherzig an. Aha. Und was ist ein Ire?
    Ein Ire ist jemand aus Irland.
    Wie St. Patrick, stimmt’s?
    Na ja, nein, nicht direkt. Das führt dazu, daß ich ihnen die Geschichte von St. Patrick erzähle, was uns von dem lang-wei-li-gen Englischunterricht abhält, und das führt zu weiteren Fragen.
    He, Mister. Reden da drüben in Irland alle Englisch?
    Was haben Sie da für Sport gemacht?
    Gibt’s in Irland nur lauter Katholen?
    Lassen Sie nicht zu, daß sie die Kontrolle im Klassenzimmer übernehmen. Treten Sie ihnen entgegen. Zeigen Sie ihnen, wer Herr im Hause ist. Bleiben Sie fest, sonst sind Sie verratzt. Lassen Sie sich nicht austricksen. Sagen Sie ihnen, schlagt eure Hefte auf. Rechtschreibung.
    Och, Mister, och, Mann, nö, nicht schon wieder. Rechtschreibung. Rechtschreibung. Rechtschreibung. Muß das sein? Sie stöhnen, diese lang-wei-li-ge Buchstabiererei. Sie tun so, als
schlügen sie mit der Stirn auf die Tischplatte, vergraben den Kopf in den verschränkten Armen. Sie betteln um den Toilettenpaß. Ich muß mal. Dringend. Mann, wir haben gedacht, Sie sind ein netter Mensch, wo Sie noch so jung sind. Warum müssen alle Englischlehrer immer denselben Quatsch machen? Dieselben Rechtschreibübungen, dieselben Wortschatzübungen, immer derselbe Scheiß, Entschuldigung. Können Sie uns nicht noch was über Irland erzählen?
    Äh, Mister … Schon wieder Joey. Das Sprachrohr als Rettungsanker.
    Noch mal, Joey, ich heiße McCourt. Mr. McCourt, Mr. McCourt.
    Jaja. Also, Mister, sind Sie in Irland mit Mädchen ausgegangen?
    Nein, verdammt noch mal. Mit Schafen. Wir sind mit Schafen ausgegangen. Was denkt ihr denn?
    Die Klasse tobt. Sie lachen, schlagen sich auf die Schenkel, stoßen sich an, versetzen sich Rippenstöße, tun so, als würden sie aus der Bank fallen. Dieser Lehrer. Das gibt’s ja nicht. Was der so daherredet. Geht mit Schafen aus. Leute, sperrt eure Schafe weg.
    Darf ich jetzt bitten? Schlagt eure Hefte auf. Wir müssen mit der Rechtschreibung weiterkommen.
    Lachkrämpfe. Stehen Schafe auch auf der Liste? O Mann.
    Meine Klugscheißerantwort war ein Fehler. Es wird Ärger geben. Der Tugendbold, der Heilige und der Kritiker werden mich bestimmt verpetzen. Beim Rektor. Oder zu Hause: O Mom, o Dad, stellt euch vor, was unser Englischlehrer heute gesagt hat. Was ganz Schlimmes über Schafe.
    Darauf bin ich nicht gefaßt, für so etwas bin ich nicht ausgebildet. Das ist kein Unterrichten. Das hat nichts mit englischer Literatur, mit Grammatik oder Stil zu tun. Wann werde ich die Kraft aufbringen, ins Klassenzimmer zu gehen, sofort ihre Aufmerksamkeit zu fesseln und mit dem Unterricht anzufangen?
Überall in dieser Schule gibt es stille, fleißige Klassen, in denen der Lehrer das Heft in der Hand hat. In der Kantine sagen mir ältere Kollegen, tja, das dauert mindestens fünf Jahre.
    Am nächsten Tag läßt mich der Rektor kommen. Er
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher