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Tag und Nacht und auch im Sommer

Tag und Nacht und auch im Sommer

Titel: Tag und Nacht und auch im Sommer
Autoren: Frank McCourt
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neun Uhr morgens im Klassenzimmer mein Mittagessen verzehren.
    Haben Sie doch gar nicht.
    Ich weiß, aber er hat mich mit dem Sandwich gesehen und gesagt, ich soll das nie wieder tun.
    Mann, ist ja unfair.
    Petey sagte, ich sag meiner Mutter, daß Ihnen ihr Sandwich geschmeckt hat. Ich sag ihr, daß Sie wegen ihrem Sandwich jede Menge Ärger gekriegt haben.
    Schön, aber sag ihr nicht, daß du’s weggeschmissen hast.
    Ne, ne. Die würde mich umbringen. Sie ist aus Sizilien. Die gehen da immer gleich auf die Palme in Sizilien.
    Richte ihr aus, es war das köstlichste Sandwich, das ich je gegessen habe, Petey.
    Mach ich.
     
    Mea culpa .
    Anstatt zu unterrichten, hab ich Geschichten erzählt.
    Nur damit sie ruhig sind und in ihren Bänken sitzen bleiben.
    Sie dachten, ich unterrichte.
    Ich dachte, ich unterrichte.
    Ich lernte.
    Und Sie haben sich als Lehrer bezeichnet?
    Hab ich nicht. Ich war mehr als ein Lehrer. Und weniger. Im High-School-Klassenzimmer ist man Feldwebel, Rabbi, Schulter zum Ausweinen, Zuchtmeister, Sänger, Stubengelehrter, Büroangestellter, Schiedsrichter, Clown, Berater, Beauftragter für die Kleiderordnung, Schaffner, Fürsprecher, Philosoph, Kollaborateur, Stepptänzer, Politiker, Therapeut, Narr, Verkehrspolizist, Priester, Mutter-Vater-Bruder-Schwester-Onkel-Tante, Buchhalter, Kritiker, Psychologe, Rettungsanker.

    In der Lehrerkantine warnten mich die alten Hasen: Junger Mann, erzählen Sie ihnen nichts über sich selbst. Das sind Kinder, verdammt noch mal. Sie sind der Lehrer. Sie haben ein Recht auf Privatsphäre. Sie kennen doch das Spiel, oder? Das sind kleine Teufel. Sie sind nicht, ich wiederhole, nicht Ihre natürlichen Freunde. Sie riechen es, wenn Sie eine richtige Unterrichtsstunde in Grammatik oder sonstwas halten wollen, und sie versuchen, Sie aus dem Konzept zu bringen. Behalten Sie sie im Auge. Diese Kinder sind schon seit elf, zwölf Jahren dabei, denen macht kein Lehrer mehr was vor. Die merken es, wenn Sie an Grammatik oder Rechtschreibung auch nur denken, sie heben ihre Pfötchen, schauen wißbegierig drein und fragen, welche Spiele Sie als Kind gespielt haben oder wer Ihr Favorit bei den gottverdammten World Series ist. Tja. Und Sie fallen drauf rein. Schon plaudern Sie drauflos, und die gehen heim und wissen nach wie vor nicht, wo bei einem Satz vorn und hinten ist, aber sie erzählen ihren Müttern und Vätern von Ihrem Leben. Nicht, daß sie das interessiert. Die kommen schon klar, aber was wird aus Ihnen? Nie wieder kriegen Sie die Splitter von Ihrem Leben zurück, die in den kleinen Köpfen stecken. Es ist Ihr Leben, Mann. Alles, was Sie haben. Erzählen Sie ihnen nichts.
    Die guten Ratschläge waren vergeblich. Ich lernte aus meinen Fehlern, mußte Lehrgeld zahlen. Ich mußte selbst herausfinden, wie ich als Mann und als Lehrer sein wollte, und damit habe ich mich dreißig Jahre lang abgemüht, innerhalb und außerhalb der Klassenzimmer von New York. Meine Schüler wußten nicht, daß da ein Mann vor ihnen stand, der einen Kokon aus irischer Geschichte und Katholizismus abstreifen mußte und überall Reste dieses Kokons verstreute.
     
    Mein Leben hat mir das Leben gerettet. An meinem zweiten Tag an der McKee stellt mir ein Schüler eine Frage, die mich in die Vergangenheit schickt und den Weg vorzeichnet, den ich die
nächsten dreißig Jahre als Lehrer beschreiten werde. Nur ein kleiner Schubs, und ich bin mitten in der Vergangenheit, dem Stoff meines Lebens.
    Joey Santos ruft: He, Mister …
    Du sollst nicht einfach loskrähen. Du sollst dich melden.
    Jaja, sagt Joey, aber …
    Sie haben eine Art, jaja zu sagen, die einem klarmacht, daß man auf ihre Duldung angewiesen ist. Mit ihrem Jaja sagen sie einem, wir geben uns ja Mühe, Mann, wir sind ja gar nicht so, schließlich sind Sie neu hier.
    Joey hebt die Hand. He, Mister …
    Nenn mich Mr. McCourt.
    Ja. Okay. Also: Sind Sie Schotte oder so was?
    Joey ist das Sprachrohr. Jede Klasse hat eines, neben dem Querulanten, dem Clown, dem Tugendbold, der Schönheitskönigin, dem Streber, dem Macho, dem Intellektuellen, dem Muttersöhnchen, dem Mystiker, der Memme, dem Liebhaber, dem Kritiker, dem Vollidioten, dem religiösen Fanatiker, der überall Sünden sieht, dem Grübler, der ganz hinten sitzt und auf seine Tischplatte starrt, der Frohnatur, dem Heiligen, der in allen Kreaturen das Gute sieht. Das Sprachrohr hat die Aufgabe, irgendwelche Fragen zu stellen, um den Lehrer von seinem langweiligen Unterricht
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