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Tag der geschlossenen Tür

Tag der geschlossenen Tür

Titel: Tag der geschlossenen Tür
Autoren: Rocko Schamoni
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Zukunftsaussichten gibt. Sie antwortet nicht. Wahrscheinlich ist sie nicht mehr in der Redaktion. Ich werde sie sowieso heute Abend sehen. Endlich.
    Wie überspringe ich die Zeit bis dahin? Meistens möchte ich die Zeit eher bremsen, aber manchmal hätte ich auch gern ein Gaspedal. Oder eine Kurbel, mit der man die Zeit vorspulen kann. Sie stört mich eher wie eine lästige Barriere, die ich überspringen muss. Zeithürdenlaufen. Welche Uhr bestimmt über alle anderen? Und wenn ich die vorstellen würde? Die Atomuhr von Greenwich. Wenn ich die Atomuhr von Greenwich vorstellen würde, würde das gesamte Zeit-Raum-Kontinuum einen gewaltigen Stolperer machen müssen, und ein paar langweilige und hässliche Stunden würden der Menschheit erspart bleiben.
    Ich setze mich an Europa mon Amour, nur um die Zeit zu vernichten. Nur um der Zeit einen vernichtenden Schlag zu versetzen. Gegen Abend habe ich etwa zehn Seiten geschrieben. Zehn Seiten, die gar nicht mal so schlecht sind. Zugegeben zehn recht schwachsinnige Seiten, aber absurd und unterhaltend. Und mehr will man ja gar nicht von mir.
    Ich laufe vor dem Kleiderschrank auf und ab. Was ziehe ich an, um Susanne zu gefallen? Da ich absolut keine Idee habe, ziehe ich mich funktional an, warm, da wir draußen sitzen werden. Eine Jeans, Bundeswehrstiefel, ’nen Rollkragenpullover und zwei alte Jacketts übereinander. Dann lasse ich mich durch die Straßen treiben, durch St. Pauli bei Nacht, am Samstagabend. Die Bürgersteige sind voll von Touristen, Landmenschen, Kleinstadtmenschen und Vorstadtmenschen, die staunend und gierig das verruchte Flair einsaugen, torkelnde Betrunkene auf dem Weg in den nächsten Orkus, Totschläger, die auf ihre Leichen in spe warten. Aggression liegt in der Luft. Manchmal spürt man das lauernde Unheil förmlich, das die Nacht für einige Beteiligten bereithält. Kleine Gangs machen sich in den Seitenstraßen bereit, jemandem aus nichtigen Gründen mit Stichwaffen schwere Verletzungen beizubringen, ihren Frust mit Dolchen in die Körper anderer zu versenken. Die Nutten in der Davidstraße stehen eng an eng, viele von ihnen sind gerade mal zwanzig, mit rotbraun geschminkten Gesichtern, Plastikextensions in den gefärbten Haaren und aufdrapierten, in Nylon gewickelten Leibern, Sexclowns on the hunt. Aggressiv attackieren sie vorbeigehende Männer, tatschen sie an, versuchen sie in ein Gespräch zu verwickeln, an dessen Ende ein voller Präser und ein paar Scheine warten. Männer lassen sich zu Hunderten auf dieses Gespräch ein, finden in dem Deal minimale Erlösung, spritzen und spritzen, um den Druck loszuwerden, dem Befehl des Fleisches räudig unterworfen. Was für eine bizarre Wirklichkeitsebene. An dieser Kante macht sich der Unterschied zwischen den Geschlechtern auf absurde Weise bemerkbar. Vor der Herbertstraße liegt ein Typ auf dem Boden und blutet aus dem Mund. Ein anderer tritt ihm immer wieder gegen den Kopf und schreit:
    »Ich hab’s dir ja gleich gesagt, ich hab dir das ja gleich gesagt! Du hast das ja nicht anders gewollt!« Der andere kann nichts erwidern, weil ihm die Zähne rausgebrochen sind. Eine Horde dumpf grölender Fußballfans lacht den am Boden Liegenden aus und zieht in die Herbertstraße ein, ihr Geist ist vollkommen bematscht von Testosteron, Adrenalin und Alkohol. Doch jetzt werden sie ganz ruhig. Aus Angst, Anspannung und aus Geilheit. Ich trinke ein paar Bier in einer alten Seemannskneipe, es gibt nur noch wenige davon, beobachte die Stammgäste, die hier seit Jahrzehnten festgewachsen sind wie Bieranemonen, und erhole mich von der Straße. Ich kaufe mir noch ein paar Bier zum Mitnehmen und gehe weiter. Nähere mich meinem Ziel, der Jugendherberge auf dem Stintfang, genauer gesagt, einer kleinen, parkähnlichen Ausblicksplattform, von der aus man einen einmaligen Blick über den Hafen hat.
    Hier oben ist es ganz still. Zwar brandet der Lärm der Nacht herauf, aber von hier geht keiner aus. Es ist kurz vor Mitternacht, niemand ist da, ich setze mich auf die Zinnen der Mauer und schaue auf den Hafen, die Docks, die vor Anker liegenden Schiffe, die Menschenströme und die Lichter. Von hier oben spürt man die miesen Energien nicht so, es scheint alles ganz entspannt, ab und zu kreuzt eine S-Bahn wie ein leuchtender Wurm das Bild. Kurz nach zwölf erscheint Susanne mit einem Fahrrad. Auch sie ist warm angezogen, trägt einen Parka und eine Baskenmütze. Sie lehnt das Fahrrad an die Zinnen, setzt sich neben mich auf
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