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Tag der geschlossenen Tür

Tag der geschlossenen Tür

Titel: Tag der geschlossenen Tür
Autoren: Rocko Schamoni
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Sprachen dieser Welt. Siebzig Minuten purer Terror, den man einsetzen kann, wenn man zum Beispiel einen Feind zermürben möchte, gegen den man sonst keine Waffen mehr hat. Ein Welterfolg.
    Ich muss meine Kolumne schreiben, für die Stadtzeitschrift. Ich muss tätig werden, mir beweisen, dass ich Herr über mein Phlegma bin. Zu lange hab ich schon gewartet. Darauf, dass ich erlöst werde, darauf, dass mir die Welt den Nobelpreis fürs Nichtstun überreicht, den Faulenzer-Oskar. Oder dass mich die Lottofee wachküsst. Wie sollte sie, wo ich nicht mal Lotto spiele? Zu faul zum Lottospielen. Zu faul fürs Glück.
    »Sonntag!«
    Geschrei, lautes Geschrei ertönt auf dem Hof, Birgit ist mit den Blagen zurück und sucht den Täter. Sie klingelt bei mir Sturm. Dann hör ich sie schreien: »Hey, hör mal, du Arschloch, hey, Sonntag, komm zum Fenster, ich weiß, dass du das warst! Ich sag dir – das hat ein Nachspiel!«
    Sie schreit und zetert, sie brüllt, wie kann ein so kleiner Körper nur so laut und böse sein? Und wie kann ein Mann wie ihr Mann mit etwas so Lautem und Bösem zwei Kinder zeugen? Na ja, ich muss zugeben, ich habe auch schon mit ihr rumgemacht, aber da wusste ich ja nicht, was sich hinter ihrer Maskerade verbirgt. Außerdem war Alkohol im Spiel. Ich warte gelassen ab, bis sie verschwindet. Ich muss aufpassen, wenn ich die Wohnung verlasse, sie wird hinter ihrem Fenster auf mich lauern.
    Ich setze mich wieder, um meine Kolumne zu schreiben.
    Was könnte diesen Monat mein Thema sein? Es gibt so viel, das mich umtreibt, aber ich habe Probleme damit, mich als engagierten Kolumnisten zu sehen, der das Ohr am Puls der Zeit hat und die Finger in den Wunden der Gesellschaft. Die Wahrheit ist: Ich lese nie Kolumnen. Ich verabscheue Kolumnen. Dieses bemühte Dabeisein im Choral. Dieses wichtigtuerische Anklagen von Alltäglichkeiten. Dieses Sich-gemein-Machen mit der Tristesse der vom Alltag Verdammten. Dieses Aufdecken von kleinsten Jämmerlichkeiten. Kolumnisten und Kritiker sind die armseligsten Buchstabenfolterknechte, die ich kenne. Sie belästigen die Menschen mit purer Meinung. Sie meinen, ihre Meinung wäre erheblich. Sie glauben, sie hätten Ahnung von Meinung. Deshalb versuche ich, meine Kolumnen möglichst nüchtern zu halten. Niemandem in der Zeitung scheint das zu gefallen, aber solange sie keinen Besseren haben, lassen sie mich machen. Und da ich nur einmal im Monat abliefern muss, halte ich durch.
     
    Kinder schreien. Kinder schreien auf Plätzen und in Wohnungen. Kinder schlagen andere Kinder, ziehen sie an den Haaren und treten sie gegen die Schienbeine. Erwachsene zerren schreiende Kinder von anderen weg. Erwachsene schreien Kinder an. In Wohnungen sitzen andere Erwachsene und hören schreienden Kindern zu. Sie möchten die Kinder ebenfalls anschreien. Sie denken an ihre eigene Kindheit und daran, wie sie geschlagen wurden und andere gewürgt und gekniffen haben. Eine alte Frau geht über einen Platz. Ein Kind fährt mit einem Dreirad gegen ihren Knöchel. Die alte Frau schlägt dem Kind mit ihrer flachen Handtasche klatschend ins Gesicht. Das Kind kippt um und schreit laut auf. Die alte Frau sieht eine Chance für sich und schlägt dem Kind mit der Tasche mehrmals auf den Kopf. Das Kind brüllt, seine Mutter kommt von der Seite angelaufen und rennt ungebremst in die alte Frau. Sie schreit vor Wut. Die alte Frau fällt zu Boden, sie hat sich die Hüfte ausgekugelt und stöhnt vor Schmerzen. Das Kind rappelt sich auf und fährt mit dem Dreirad wiederholt über den Knöchel der alten Frau. Der Sohn der alten Frau kommt auf den Platz, bricht sich einen Stock aus einem Gebüsch und verprügelt die Mutter und das Kind. Beide weinen und jammern. Der Sohn zieht die alte Frau an ihrer Handtasche, die um ihren Hals hängt, vom Platz. Sie gibt würgende Geräusche von sich. Die Mutter und das Kind sterben an ihren Verletzungen.
     
    Ich lehne mich zurück und lese den Text. Mir persönlich gefällt er bis jetzt recht gut. Stringenz, Klarheit, Einfachheit, Offenheit, Interpretierbarkeit. Ich weiß, dass man in der Redaktion wieder die Stirn runzeln wird. Ich weiß, dass mein Posten zur Disposition steht. Aber ich habe das Gefühl, dass es auch einen geben muss, der so schreibt, wie ich schreibe.
     
    Ein Polizeiwagen fährt auf den Platz. Zwei Polizisten springen heraus und fotografieren die Leichen. Ein Penner sagt etwas über den Täter und seine Mutter aus. Die Polizisten verfolgen den Täter und seine
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