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Tag der geschlossenen Tür

Tag der geschlossenen Tür

Titel: Tag der geschlossenen Tür
Autoren: Rocko Schamoni
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ich zum ersten Mal anspreche. Die Zeiten der Grippeepidemien sind meine Lieblingsjahreszeiten. Ich fahre dann sehr viel U-Bahn, natürlich immer die stark frequentierten Linien, und stelle mich an die Türen, wo das meiste Gedrängel herrscht. Oder ich halte mich in Arztpraxen und Krankenhäusern auf. Denn die Orte der Genesung sind die zuverlässigsten Herde für Krankheitserreger aus aller Herren Länder, sozusagen Virenbörsen, Tauschmärkte für extraordinäre Infektionen. Denken Sie nur an das Tropeninstitut in Hamburg-St. Pauli. Dort trifft man an guten Tagen auf eine größere Bakterienpalette als in den tiefsten Ebolaspalten des Dschungels. Um dem Vorwurf der Koketterie vorzubeugen, möchte ich auch warnen vor diesen fremdländischen und teilweise unidentifizierten Erregern, es sind einige dabei, deren Effekte äußerst unangenehm sein können. Deshalb hole ich mir meine Krankheiten lieber auf der Straße ab, eine herkömmliche U-Bahn-Grippe ist jederzeit zu verschmerzen, verschafft einem aber eine garantierte Auszeit von etwa einer Woche.
    Ein zuverlässiger Trick sind das Berühren von Haltegriffen und Stangen, Türöffnern und Knäufen und das ausgiebige Anfassen von Gummilaufbändern an Rolltreppen. Man braucht sich eigentlich nur etwa ein bis zwei Stunden am Tag auf einer Rolltreppe aufzuhalten, sagen wir mal in einem gut besuchten Kaufhaus wie Karstadt, und ab und zu die Hand zum Mund zu führen. Das mag für manchen ein wenig unappetitlich wirken, aber es geht mir dabei ja auch nicht um die Ästhetik, sondern rein um den Effekt gewonnener Zeit, das höchste Gut, um das wir heute alle kämpfen. Kranke Stunden sind freie Stunden, sind eigene Stunden, sind gewonnene Lebenszeit. Um es kurz zu machen: Krankheit = Freiheit.
    Ich habe die gelben Zettel der Ärzte fein säuberlich in ein Fotoalbum geklebt und kann mir jederzeit die an mir diagnostizierten Erreger anschauen und vergleichen und somit feststellen, wie viele unterschiedliche Krankheiten ich schon hatte und welche mir summa summarum am meisten freie Zeit eingebracht haben. An die heftigsten Viren versucht man natürlich immer wieder ranzukommen. Das Problem ist, dass man resistent gegen sie wird. Ein unangenehmer Nebeneffekt. Da hilft nur ungesunde Ernährung, möglichst wenig Vitamine, Licht und Schlaf, keine Bewegung und möglichst viel verqualmte, abgestandene Luft. Dafür lässt sich sorgen. Oder aber eine Immunschwächekrankheit. Vor Kurzem ist meine alte Freundin Maggie gestorben. An Aids. Ich hatte schon länger keinen Kontakt mehr zu ihr, ich wusste nichts von ihrer Krankheit, zumindest nicht in der Zeit, in der wir miteinander geschlafen haben, aber man sagte mir, sie habe es schon länger gehabt. Wir hatten nie geschützten Verkehr. Es wäre möglich, dass sie es an mich weitergegeben hat, aber ich kann mir nicht sicher sein, da ich diesbezüglich nicht zum Arzt gehen möchte. Ich möchte darüber, wenn es irgend geht, nicht nachdenken.

Im Labyrinth des Halbwissens
     
    D er Nowak hat mich angerufen. Er hätte ’nen Job für mich, ich solle ihn doch mal besuchen kommen. Am späten Nachmittag klopfe ich ans Fenster seiner Parterrewohnung in Altona. Er öffnet das Fenster und lässt mich rein. Warum ich noch nie durch die Tür kommen durfte, ist mir ein Rätsel. Sie ist immer von innen verschlossen und verriegelt mit einem großen Bügelschloss. »Aus Sicherheitsgründen.«
    Der Nowak lebt ein sonderbares Leben. Er hat vier kleine Räume in seiner Wohnung, drei davon sind voller Zeitungsstapel. Stern , Konkret , Bunte , Pardon , Sounds , Rolling Stone , Spex , Titanic , Art , Texte zur Kunst , Spiegel usw., alles adrett angeordnet und penibel sortiert nach Jahren, Monaten und Wochen. Zwischen den Stapeln, die teilweise bis zur Decke reichen, führen schmale Gänge hindurch. Ein Labyrinth des gehobenen Halbwissens. Das vierte Zimmer ist leer bis auf eine Matratze, die auf dem Boden liegt, und einen fetten schwarzen Kater, der auf dieser Matratze schläft. Die Küche wiederum ist klein und eng und voller leerer Bierdosen.
    Der Nowak bietet mir einen Stuhl an und stellt eine Dose Bier vor mir auf den Küchentisch. Er setzt sich mir gegenüber hin und öffnet sich ebenfalls eine Dose. Seine Stahlrahmenbrille und sein fettiges Haar geben ihm etwas Spießiges. Erst jetzt bemerke ich, dass er einen alten ausgeleierten Schlafanzug trägt. Er verbringt die meiste Zeit im Liegen mit seinen Magazinen.
     
    »Sonntag, ich hab mal wieder ’ne
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