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Tacheles

Tacheles

Titel: Tacheles
Autoren: Andreas Pittler
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und dass ausgerechnet der nun von der Regierung verhaftet worden war, bedeutete wohl einen schweren Schlag für die Nazis. Diese Ansicht bekam er dadurch bestätigt, dass unter den Wächtern hörbare Panik ausbrach. „Die hängen uns alle auf!“, rief einer, und ein anderer betonte die Notwendigkeit sofortiger Flucht. Es bedurfte einiger Mühe eines Befehlshabers, wieder einigermaßen Ruhe herzustellen. „Wir haben“, verkündete er den eigenen Leuten und damit auch den Gefangenenum Bronstein, „den deutschen Gesandten mit Verhandlungen in unserem Sinne beauftragt. Wir bekommen freien Abzug nach Deutschland, das garantiere ich euch. Wir haben diese Schlacht zwar nicht gewonnen, aber wir kommen in unser geliebtes Reich, wo wir uns für künftige Kämpfe rüsten können. Der Sieg wird unser sein, wenn nicht heute, so morgen. Sieg Heil!“
    Reflexartig schrien die Aufständischen wie aus einer Kehle gleichfalls „Sieg Heil“, sodass die ganze Säulenhalle bebte, und die gefangenen Beamten begannen wieder zu hoffen, den Tag doch zu überleben. Als Bronstein vorsichtig hinter sich lugte, da war Murer nicht mehr da. Der hatte nun offensichtlich auch andere Sorgen, als ihn, Bronstein, vom Leben zum Tode zu befördern.
    Das Warten schien kein Ende zu nehmen. Bronstein schmerzte jeder Muskel, er wusste nicht mehr, wie lange er sich noch aufrecht würde halten können. Er hatte furchtbaren Durst und musste eigentlich dringend auf den Abort. Doch die Wachen hinter ihm schienen so nervös zu sein, dass ein falsches Wort schon eine Katastrophe auslösen konnte. Bronstein fand sich damit ab, sich jeden Augenblick anzupinkeln, und es tröstete ihn wenig, dass dies einigen Beamten bereits passiert war. Bronstein beugte sich ganz langsam und unmerklich nach vor, und nach einer kleinen Ewigkeit berührte seine Stirn die Wand. Auf diese Weise konnte er sich wenigstens in einem kleinen Teilbereich entspannen. Bronstein riskierte einen Seufzer.
    „Hurra!“ Auf der Treppe erschien wieder der Nazibefehlshaber, der seine Leute anfeuerte. „Wir haben es geschafft. Wir bekommen freien Abzug. Alle Mann sammeln sich sofort im Eingangsbereich. Der Letzte sichert hier den Abzug.“ Dann war er auch schon wieder weg, und den Hauch eines Augenblickes später waren die Gefangenen allein. Bronstein wagte es als Erster, sich zu bewegen. Vorsichtig blickte er nach hinten. Da wartatsächlich niemand mehr. „Sie sind weg“, sagte er leise und registrierte beiläufig, wie die Beamten des Kanzleramtes links und rechts neben ihm stöhnend zu Boden gingen. Er selbst schlich sich zur Tür und hörte das Lärmen der sich formierenden Nazis. Er linste um die Ecke und sah die gut hundert Mann in Reih und Glied stehen, offensichtlich darauf wartend, dass ihnen das Tor geöffnet würde. Die Wächter, die eben noch so nervös und abgespannt gewirkt hatten, vermittelten nun einen beinahe fröhlichen Eindruck. Bronstein sah gleichsam eine Schulklasse in Erwartung des Ausflugs vor sich, und schon ertönte der Ruf „Öffnet das Tor!“
    Was folgte, war eine Art Wiederholung der Ereignisse vom Mittag, nur diesmal mit umgekehrten Rollen. Diesmal waren es die Nazis, die überrumpelt wurden. Und während sich Bronstein endlich aufrichten und strecken konnte, war in der Einfahrt auch schon alles vorbei. Die Nazis waren überwältigt, der Putsch endgültig niedergeschlagen. Schon liefen echte Soldaten und Polizisten zum Stiegenhaus, um das Gebäude zu sichern.
    „Servus Bronstein!“ Kriminalinspektor Marek baute sich vor dem Oberst auf. „Na, da is’ ja jetzt doch noch einmal rundgangen.“ „Des kannst laut sagen, Marek, des woa net lustig. Aber ich war die ganze Zeit dabei. Über meine Aussage werden sich die Herrschaften da freuen.“
    „Sehr gut, die haben nie wieder was zu lachen, des sag ich dir. Apropos, weißt du, wo der Kanzler ist?“
    „Ja, den haben s’ ang’schossen. Der liegt oben in seinem Amtszimmer.“
    So ist das also. Merkwürdig, ich hätte gedacht, man würde den Schmerz fühlen, ihn ganz stark empfinden. Doch es ist weniger schlimm als beim Zahnarzt. Eigentlich habe ich gar nichts gespürt, als die Kugel in mich eingedrungen ist. Trotzdemsind mir die Beine weggesackt, das ist wahr. Aber als ich auf die Knie gefallen bin, hat das mehr wehgetan als die Wunde selbst. Aber vielleicht lag das auch daran, dass alles so bizarr ablief. Plötzlich stand dieser ungeschlachte Kerl im Raum und hob ohne jede Vorwarnung seine Pistole. Ich hab
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