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Tacheles

Tacheles

Titel: Tacheles
Autoren: Andreas Pittler
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vielleicht in den eigenen vier Wänden Sicherheit zu finden. Doch da erwischte es mich. Ich hatte mit dem Schlag gerechnet, und doch kam er überraschend. Wann das wohl war? Ich habe jedes Zeitgefühl verloren. Warum lassen die nicht endlich von mir ab? Was wollen die denn noch? Sehen die nicht, dass ich vollkommen fertig bin? Nur noch ein Klumpen blutendes Fleisch? Ob etwas gebrochen ist? Das Nasenbein wahrscheinlich, und ein paar Rippen ziemlich sicher. Es soll endlich aufhören, bitte. Aufhören! Ich möchte schreien, doch ich kann nicht. Und ich wollte sie fragen, was es denn noch bringt, auf jemanden einzudreschen, der sich ohnehin kaum mehr bewegen kann. Warum tun die das?
    Die wollen mich richtig fertigmachen! Ja, das ist es, die werden erst aufhören, wenn ich wirklich tot bin! Oh Gott, das gibt es doch nicht, das kann doch gar nicht wahr sein! Hilfe, zu Hilfe! Warum hilft mir denn niemand? So etwas kommt doch im wirklichen Leben nicht vor! Es wird doch niemand totgeprügelt. Nicht hier in Wien. Aufhören! Um Himmels willen aufhören! Wenn ich mich nur irgendwie wegschleppen könnte, wenn nur jemand käme, der diesen Wahnsinn beendet, bitte, das ist doch alles ganz unwirklich, wie im Alptraum, damuss ich doch endlich aufwachen, in meinem Bett, und es ist einfach ein neuer Tag, und alles an mir ist heil. Ich glaube, jetzt ist etwas gerissen. War das die Lunge? Ich bekomme ohnehin schon keine Luft mehr, weil mein Mund und meine Nase vollkommen mit Blut gefüllt sind. Und jetzt auch noch dieser stechende Schmerz in der Seite. Ob eine Rippe in die Lunge eingedrungen ist? Wann hat das alles endlich ein Ende? Ich will leben, bitte, leben! Hört denn niemand in diesem Haus den Lärm, holt denn niemand die Polizei? Die prügeln mich wirklich tot. Nein, die hören nicht auf, solange sich noch irgendetwas in mir regt. Gott im Himmel, lass das nicht zu, hilf mir in meiner Not, ich will nicht sterben. Nicht jetzt, nicht so. Vielleicht habe ich wirklich etwas falsch gemacht in meinem Leben, doch welchen Nutzen hätte diese Erkenntnis, wenn ich diese Fehler nicht mehr korrigieren könnte? Bitte, lieber Gott, lass mich nicht so enden, gib mir eine Chance, rette mich, bitte! Ich bekomme keine Luft mehr, ich kann nicht mehr denken, ich … ob ich ein weißes Licht sehen werde … zieht mein Leben an mir vorüber? Nein, das darf nicht sein … aufhören … merkwürdig, ich spüre gar nichts mehr … ich … nicht auf den Kopf … nein … nicht … Kopf. Gott, du kannst das … nicht zulassen … Ich habe doch immer versucht, nach deinen Geboten zu leben … es kann nicht recht sein, was diese Mörder tun, gebiete ihnen Einhalt … Ob man mich vermissen wird, wenn ich nicht mehr bin? … Nein, so darf ich nicht denken! Ich werde überleben! Ich muss überleben! Alles andere wäre völlig widersinnig. Ich will all meine Kraft zusammennehmen, um diese Prüfung zu bestehen. Sie werden ihren Willen nicht bekommen, ich stehe das durch. Egal, wie sehr sie sich in Rage gebracht haben, ich werde ihnen die Stirn bieten. Ich bin …

II.
Sonntag, 1. Juli 1934
    Polizeioberst David Bronstein stand, wie er es gewohnt war, Punkt sieben Uhr früh auf. Natürlich wusste er, dass er am Sonntag nicht zu arbeiten brauchte, doch er legte schon seit vielen Jahren Wert darauf, Tag für Tag sein besonderes Ritual einzuhalten. In früheren Zeiten freilich, da er noch in Hernals auf Zimmer-Küche-Kabinett gewohnt hatte, war dieses sein Ritual ein wenig spartanischer ausgefallen. Er hatte sich damals noch mit einem normalen Lavoir behelfen müssen, in das er einfach aus einer bereitstehenden Karaffe Wasser hineingegossen hatte, um sich Gesicht, Hals und Nacken zu waschen. Anschließend pflegte er fünfundzwanzig Kniebeugen zu machen, ehe er sich seines Nachthemds entledigte, um sich sodann, ganz dem jeweiligen Tag entsprechend, anzukleiden. Erst danach setzte er sich an den Küchentisch, wo er ein Glas Kuhmilch zu sich nahm und sich seine erste „Donau“ gönnte. Dieses Zeremoniell hatte er im Wesentlichen auch noch in Margareten beibehalten. Nun aber, da er endlich standesgemäß in der Walfischgasse residierte und sich sogar eine Zugehfrau leisten konnte, fiel diese morgendliche Verrichtung ein wenig pompöser aus. Er hatte nun ein eigenes Badezimmer, in dem er sich umfassend reinigen konnte, ehe er sich zu Tisch begab, wo der Hausgeist wochentags dafür Sorge trug, dass Kaffee und ein Brioche bereitstanden. Auf diese Weise vergingen immer
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