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Tacheles

Tacheles

Titel: Tacheles
Autoren: Andreas Pittler
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ihm, Bronstein, rechtschaffen gleichgültig sein, denn er gehörte weder der „Vaterländischen Front“ noch sonst irgendeiner Regierungsorganisation an, denn parteipolitisches Engagement, gleich welcher Richtung, ziemte sich für einen Beamten nicht, auch wenn es in der alten Verfassung sogar expressis verbis erlaubt gewesen war. Doch dieses Dokument war vor zwei Monaten ohnehin außer Kraft gesetzt worden, sodass sich Bronstein in seiner stets beibehaltenen Grundeinstellung wenigstens in diesem Punkt bestätigt gefühlt hatte.
    Bronstein dämpfte die „Donau“ aus und rang immer noch mit sich, ob er nun einen dritten Kaffee bestellen sollte oder nicht. In genau diesem Augenblick, da Bronstein noch zögerte, betrat der Amtsdiener seiner Abteilung das Kaffeehaus.
    Bronstein wusste sofort, dieser Besuch konnte nur ihm gelten, denn ein derart subalterner Mensch wie der Amtsdiener hätte sich das „Herrenhof“ in jeder Beziehung niemals leisten können. Instinktiv richtete sich Bronstein den Schlips und blickte den heraneilenden Mitarbeiter erwartungsvoll an.
    „Untertänigst einen guten Tag zu wünschen, Herr Oberst“, begann dieser, „so ein Glück, dass ich Sie hier treff. Das ganzePräsidium sucht schon ganz heftig nach Ihnen. Es ist nämlich ein Mord passiert.“ Der Amtsdiener wagte es erst jetzt auszuatmen und sank förmlich in sich zusammen, da er seine Aufgabe, wie er meinte, achtbar und untadelig bewältigt hatte.
    Bronstein ließ sich Zeit. Als Ranghöherer durfte man gegenüber Untergebenen keinesfalls eine unnötige Eile erkennen lassen, denn das schadete nur dem Ansehen. Man hatte prinzipiell immer die Contenance zu wahren. Bronstein legte also in aller Ruhe die „Reichspost“ beiseite, richtete die Schachtel „Donau“ parallel zur Tischkante aus und sah dann den Amtsdiener wieder direkt an.
    „Hat nicht Major Cerny Dienst? Wenn dem so ist, dann wäre es doch zweifelsfrei sein Fall, oder nicht?“
    „Der Herr Oberst hat selbstverständlich Recht“, beeilte sich der Amtsdiener, ganz der Hierarchie entsprechend, mit seiner Antwort, „es steht ganz außer Zweifel, dass der Herr Oberst heute nicht im Dienst ist. Es handelt sich nur um einen derart delikaten Fall, dass der Herr Major unbedingt nach Ihnen schicken ließ, um die Meinung des Herrn Obersten zu hören.“
    „Soso.“ Jetzt schien die Zeit reif für eine weitere „Donau“, denn die konnte man im Zweifelsfall auch im Gehen weiterrauchen. „Hat er g’sagt, worum es genau geht, der Cerny?“ Ein etwas informellerer Ton schien Bronstein an dieser Stelle angezeigt, um den Amtsdiener dazu zu ermuntern, frei von der Leber weg zu berichten, was sich tatsächlich zugetragen hatte.
    Dem war der Sprachwechsel des Obersten nicht entgangen, und so verfiel nun auch er auf sein eigentlich gewohntes Idiom. „In da Innenstodt ham s’ an Fabrikanten g’mocht. Und wäu der a Jud woa, hot der Major g’mant, es tät net schodn, waun se der Herr Oberst die Gschicht anschaun tät.“
    Bronstein zuckte unwillkürlich zusammen. Es irritierte ihn jedes Mal aufs Neue, wenn man ihn, den Polizeioberst Bronstein, so degoutant in Verbindung brachte mit irgendwelchenPersonen, die dem mosaischen Glauben anhingen. Ja, es stimmte schon, sein Urgroßvater Mordechai war vor hundertfünfzig Jahren ein kleiner Bader in Galizien gewesen, und sein Großvater Nahum hatte sich erst taufen lassen, als er sich in Wien ansiedeln und auch hier seinen Arztberuf ausüben wollte. Aber das waren längst vergangene Geschichten, die doch wirklich niemand mehr aufzuwärmen brauchte. Immerhin hatte sein Vater dem Kaiser vierzig Jahre treu gedient, und er, David, stand nun auch schon fast dreißig Jahre im Dienste der Wiener Polizei. Da war es doch wirklich nicht zu viel verlangt, nicht länger mit irgendwelchen verschrobenen Männlein im Kaftan in einen Topf geworfen zu werden. Allerdings hatte der Amtsdiener von einem Fabrikanten gesprochen, und der war sicherlich auch nicht mit Schläfenlöckchen und Hut durch die Gegend gelaufen. Die Ignoranz des Volkes war wirklich einzigartig. Diese deutschtümelnden Toren! Sie hatten keine Ahnung von Goethe, Wagner oder Friedrich, ja sie sprachen nicht einmal ein Deutsch, das den Namen verdient hätte. Und trotzdem fühlten sie sich jenen überlegen, die seit Jahrhunderten durch ihren Fleiß und ihre Rechtschaffenheit bewiesen hatten, welch wertvolle Mitglieder der Gesellschaft sie waren – was man von den maulfaulen Vertretern des
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