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Tacheles

Tacheles

Titel: Tacheles
Autoren: Andreas Pittler
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dreißig bis vierzig Minuten, ehe er tatsächlich das Haus verließ, bereit, sich den jeweiligen Tagesaufgaben zuzuwenden.
    An diesem Sonntag verspürte er jedoch wenig Lust, auf die übliche Weise den Tag zu beginnen. Vor dem Schlafengehenhatte er im Radio noch atemberaubende Geschichten aus Berlin gehört, wo es offenbar zu einem Putsch der SA gekommen war, den die Nazis jedoch mit Hilfe der Wehrmacht niedergeschlagen hatten. Bronstein war begierig, mehr über diese Sache zu erfahren, und so verzichtete er auf den Kaffee zu Hause, legte vielmehr nach der Morgentoilette rasch einen weißen Sommeranzug an, um dann eilig das Haus zu verlassen. Vor der Tür wandte er sich nach rechts und trabte flott am Hotel Sacher vorbei zur Augustinerstraße, um nach wenigen Minuten den Michaelerplatz zu erreichen. Von dort waren es nur noch wenige Minuten, ehe er sein Stammcafé, das „Herrenhof“, erreichte. In diesem Etablissement, das vor allem dafür bekannt war, die literarischen Größen des Landes zu beherbergen, war er in den letzten Jahren heimisch geworden, und er hatte dem „Herrenhof“ auch noch die Treue gehalten, als er vom Bezirkskommissariat Innere Stadt in das Sicherheitsbüro versetzt worden war, das direkt im Polizeipräsidium am Ring einquartiert war. Bronsteins Wege waren dadurch zwar länger geworden, aber seinen großen Braunen ließ er sich nicht nehmen. Jeden Morgen machte er im „Herrenhof“ gleichsam Zwischenstation auf seinem Weg ins Präsidium, um dort die Tagespresse zu studieren. In aller Ruhe zumal, da die Herren Literaten um diese Uhrzeit noch tief und fest zu ruhen pflegten und sich daher kaum Gäste in das Café verirrten.
    So wollte es Bronstein auch an diesem Sonntag halten. Wenige Minuten vor acht Uhr morgens traf er im „Herrenhof“ ein, nickte dem Zahlkellner kurz zu und steuerte seinen Stammplatz an, wo schon die „Wiener Zeitung“ und die „Reichspost“ für ihn bereitgelegt waren. Bronstein holte eine „Donau“ aus seinem silbernen Etui, zündete sie genussvoll an und nahm dann die „Wiener Zeitung“ zur Hand, um die Titelseite in Augenschein zu nehmen. In der Zwischenzeit war der Kellner lautlos an ihn herangetreten und stellte beflissen den großen Braunennebst einem Glas Wasser ab. Bronstein dankte beiläufig und stürzte sich auf den Leitartikel, der in fast marktschreierischer Form den Titel „Der Hitler-Tragödie zweiter Teil“ trug. Es schien, als wunderte sich die Redaktion des amtlichen Blattes weit weniger über die Ereignisse rund um den mutmaßlichen Putsch der SA als darüber, dass die Nationalsozialisten sich überhaupt noch an der Macht halten konnten. Von blutigem Dilettantismus in Politik und Wirtschaft war da die Rede, davon, dass unverschämter Nepotismus und Byzantinismus wilde Orgien feierten, ein parteipolitisches Sodom und Gomorrha, und Bronstein kam zu dem Schluss, dass die Redakteure der Zeitung einfach keine Ahnung hatten, was sich am Vortag wirklich in Deutschland zugetragen hatte, sodass sie sich nun einerseits in Mutmaßungen ergingen und andererseits, ganz im Sinne der Regierung, eine Philippika gegen den nördlichen Nachbarn vom Stapel ließen. Laut „Wiener Zeitung“ seien Röhms Verfehlungen doch schon lange allgemein bekannt gewesen, es gebe also keinen Grund, erst jetzt entsetzt zu tun. Unwillkürlich musste Bronstein schmunzeln, als er sah, dass es den Zeitungsmachern auch in diesem brisanten Fall gelang, den Hauptgegner der Regierung anzuschwärzen, sei doch die ganze Angelegenheit in Deutschland der Versuch der sozialistischen Elemente in der NSDAP gewesen, die Macht im Lande zu ergreifen. Also doch ein Putsch? Noch dazu von den Roten unter den Braunen? Die eine Verschwörung anzettelten, seien allerdings Hitlers engste Vertraute gewesen. Hitler, umgeben von lauter Roten? Merkwürdig, dachte Bronstein. Wieso saßen dann so viele Rote in irgendwelchen Lagern? Vollends in einen Strudel von Widersprüchen schrieben sich die Leitartikler allerdings in der zweiten Spalte, als sie einerseits behaupteten, Hitler habe durch diese Verschwörung an Macht eingebüßt, andererseits aber konstatierten, er gehe aus dieser Auseinandersetzung gestärkt hervor. Der Mann aus Braunau war zwarohne Frage ein politisches Talent, aber diesen Spagat würde nicht einmal er zuwege bringen, resümierte Bronstein, der aus der Zeitung aufblickte, die Tasse hochhob und dem Kellner signalisierte, er wolle noch etwas bestellen. „Noch einen kleinen Braunen“,
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