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Suter, Martin

Suter, Martin

Titel: Suter, Martin
Autoren: Allmen und die Libellen
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zum Regal mit der Kangxi-Vase und ließ sie in der tiefen Innentasche
seines Mantels verschwinden.
    Dann stellte er sich in die Tür zum Hinterzimmer und
unterhielt sich mit der Ladenbesitzerin, während sie sich mit den
Geschenkverpackungen abmühte.
    »Für meine Frau«, erklärte er, »heute ist unser
Hochzeitstag. Ich hoffe, meine Maschine nach London fliegt bei diesem Nebel.«
     
    Als Jack Tanner am nächsten Morgen das Viennois betrat,
nickte ihm Allmen zu und deutete diskret auf den Pilotenkoffer, der auf seinem
Nachbarstuhl stand. Tanner nickte zurück. Eine knappe Stunde später stand Allmen
vor seinem Geschäft.
    Es lag in einem der letzten nicht renovierten Häuser
mitten im Bankenviertel. Schon als Tanner es, vor bald dreißig Jahren,
übernommen hatte, war es ein Antiquitätengeschäft gewesen. Den Namen, Les
Trouvailles, hatte er von seinem Vorgänger übernommen. Nicht, weil er
ihm besonders gefallen hätte, aber der altmodische Schriftzug aus polierten
Messinglettern auf dunkelgrüner Lackfarbe hatte es ihm angetan.
    Der Laden besaß drei kleine Schaufenster mit
Sicherheitsglas und altmodischen Sensoren, die bei einem Einbruchsversuch einen
Alarm auslösen würden. Oder auch nicht, das System hatte sich noch nie in einem
Ernstfall bewähren müssen.
    Zu den Sicherheitsvorkehrungen von Les Trouvailles gehörte auch, dass die Ladentür stets verschlossen war und die Kunden
klingeln mussten. Das tat Allmen jetzt.
    Nach einer Weile kam Jack Tanner persönlich an die Tür.
Seit seine langjährige Mitarbeiterin, Frau Freitag, in Pension gegangen war,
führte er das Geschäft allein. Es kam kaum Laufkundschaft, die meisten Kunden
wollten direkt mit dem Inhaber sprechen. Und wenn er bei seinem Frühstücksstammtisch
im Viennois war, hing das Schild »Bin gleich zurück« an der Tür.
    Der Ausstellungs- und Verkaufsraum des Ladens war
eingefasst von Einbauvitrinen, die zur ursprünglichen Einrichtung gehörten.
Die Objekte darin waren beleuchtet von beweglichen Spots, die an einer
Stromschiene an der Decke angebracht waren. In der Mitte stand eine Reihe
Tischvitrinen für Schmuck, Silber und kleinere Nippes. Der Raum war von einer
etwas verstaubten Eleganz und roch nach dem Wachs, mit dem das knarrende Riemenparkett
gebohnert wurde.
    Durch eine Schiebetür gelangte man in einen Nebenraum, der
zur einen Hälfte als Ausstellungsfläche für Möbel, zur anderen als Lager
diente. Von dort aus führte eine Tür in das kleine Büro von Tanner, die
Sakristei, wie er es nannte. Dorthin folgte ihm Allmen.
    Der Raum wurde von einem Biedermeierschreibtisch mit
einem gepolsterten Drehstuhl aus der gleichen Epoche dominiert. Beides habe
während des Zweiten Weltkriegs im Büro von General Guisan in dessen
Hauptquartier gestanden und sei deshalb unverkäuflich, behauptete Tanner. Für
Besucher stand einzig ein zweiplätziges Louis-Philippe-Sofa zur Verfügung.
    Tanner bot es ihm nicht an. Er deutete auf den
Schreibtisch und sagte: »Dann lass mal sehen.«
    Die diskrete Geschäftsbeziehung zwischen den beiden
bestand schon seit einigen Jahren. Am Anfang war Allmen ein guter Kunde
gewesen, vor allem für amerikanisches Silber und Art deco. Später, als Allmens
finanzielle Schwierigkeiten ihn zum Handeln zwangen, wurde er vom Kunden zum
Lieferanten. Er verkaufte Tanner immer wieder Stücke aus seiner Sammlung. Der
war zwar knauserig, aber was ihm an Großzügigkeit fehlte, machte er durch
Diskretion wett.
    Im Lauf der Zeit war Allmens Vorrat an verzichtbaren
Stücken so geschrumpft, dass er begann, auf Flohmärkten und in Provinzläden auf
die Jagd nach verkäuflichen Stücken zu gehen. Aber Jacks Preispolitik drückte
so schwer auf Allmens Marge, dass er nach einer anderen Lösung suchen musste.
Per Zufall fand er sie in einem Antiquitätengeschäft im Eisass. Er kaufte eine
kleine Madonnenstatue, und während der Verkäufer damit beschäftigt war, sie zu
verpacken, dachte Allmen: Ich könnte dem jetzt unbemerkt diese
Rosenthal-Figurengruppe klauen, wenn ich wollte. Und dann wollte er.
    Mit der Zeit perfektionierte er die Technik, das
Verkaufspersonal durch einen Kauf so abzulenken, dass er unbemerkt etwas
mitgehen lassen konnte. Seine Kleidung, sein Auftreten und die Tatsache, dass
er ja etwas kaufte, machte ihn vertrauenswürdig und in der Erinnerung
unverdächtig.
    So leichtfertig Allmen sein Geld ausgab, so streng hütete
er sein kleines Arbeitskapital, das der Finanzierung der Ablenkungskäufe
diente und der Bahnreisen.
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