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Sündenfall: Roman (German Edition)

Sündenfall: Roman (German Edition)

Titel: Sündenfall: Roman (German Edition)
Autoren: Anya Lipska
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paar Jahren, kurz vor seinem Tod. Endlich hatte sie das richtige Lagerhaus entdeckt – inzwischen war es kaum noch zu erkennen, da die hundert Jahre alte Patina aus Kohlenruß mit dem Sandstrahler entfernt worden war. Außerdem waren die oberen Etagen mit schicken neuen Balkons versehen. Alles wies darauf hin, dass das Lagerhaus mittlerweile als teures Domizil für Banker aus der City eine neue Bestimmung gefunden hatte. Ja, ein Haufen reicher Schnösel , hörte sie ihn sagen. Er hätte sich so gefreut, sie jetzt erleben zu können, als Detective, unterwegs zu ihrem ersten verdächtigen Todesfall.
    Als ihr Vorgesetzter es ihr am heutigen Morgen eröffnet hatte, war sie anfangs ein wenig verärgert gewesen. Sie musste nämlich wegen einer Gerichtsverhandlung nach Westlondon, und der neue Auftrag bedeutete, auf schnellstem Wege nach Wapping zurückzukehren. Außerdem war eine geborgene Wasserleiche doch etwas für Uniformträger. Allerdings wurde ihr, sobald sie die Worte aussprach, klar, dass es eine sehr schlechte Idee gewesen war, das ihrem Sergeant, wenn auch noch so sehr durch die Blume, klarmachen zu wollen. Was noch schlimmer war; sie hatte diese Woche Frühschicht, sodass sich der Vorfall um halb acht Uhr morgens ereignet hatte. Detective Sergeant Bacon, von seinen Constables »Specki« genannt, war alles andere als ein Morgenmensch und hatte sie vor den Augen zweier Kollegen ordentlich zur Schnecke gemacht.
    »Lassen Sie mich eines klarstellen, Kershaw: Sie tun verdammt noch mal genau das, was ich Ihnen sage, und antworten mit ›Danke, Sergeant, darf ich Ihnen einen Tee bringen, Sergeant?‹. Wenn Sie mir noch einmal frech kommen, sorge ich dafür, dass Sie wieder auf der Romford Road Streife gehen, und zwar schneller, als Sie die Gleichstellungsbeauftragte anrufen können.«
    Specki war Mitte fünfzig und bis hin zu seinen nikotinfleckigen Fingerspitzen ein Kriminalbeamter der alten Schule. Kershaw hatte den Verdacht, dass weibliche Detectives in seinen Augen nur für eines zu gebrauchen waren, nämlich um Zeugen in Fällen von Vergewaltigung, häuslicher Gewalt oder Kindesmisshandlung zu vernehmen.
    Natürlich hätte sie sich beim Chef, Detective Inspector Bellwether, über Bacons steinzeitlichen Führungsstil, die Kraftausdrücke, den kaum verhohlenen Sexismus und sein altmodisches Beharren, seine Untergebenen nur mit dem Familiennamen anzusprechen, beschweren können, denn solche Dinge waren heutzutage absolut tabu. Doch sie hielt lieber den Mund und machte ihre Arbeit. In diesem Beruf brauchte man ein dickes Fell. Und wenn sie sich hin und wieder aufziehen lassen musste, weil sie jung, blond und weiblich – sprich, ein Dummerchen – war, zahlte sie es dem Betreffenden mit gleicher Münze heim. Außerdem wurde jeder Kollege aus irgendeinem Grund gehänselt. Weil er dick oder dünn war, aus dem Norden kam, rote Haare hatte, einen komischen oder einen langweiligen Namen trug, mit Oberschichtakzent oder Cockney sprach – den Witzbolden war alles recht. In ihrem ersten Revier hatte ein armer Teufel den Fehler begangen zu verraten, dass er in seiner Freizeit Karate machte. Am nächsten Tag war sein Schreibtisch unter einem Berg aus Speisekarten von China-Restaurants und Backsteinen begraben gewesen. Sie konnte sich nicht einmal an seinen wirklichen Namen erinnern, weil ihn alle – sogar die Telefonistinnen – nur Chop Suey genannt hatten.
    Einstecken und Austeilen – dieses freundschaftliche Geplänkel schweißte zusammen und sorgte dafür, dass man sich als Teil einer Gemeinschaft fühlte. Wer diese Hänseleien seiner Kollegen nicht verkraften konnte, hatte bei der Polizei nichts verloren, Schluss, aus und vorbei. Und eines stand für Natalie Kershaw fest: Sie würde nicht als einer der traurigen Fälle enden, die sich vor dem Arbeitsgericht über Sexismus beklagten. Wenn sie es mit dreißig, also in drei Jahren, nicht zum Sergeant gebracht hatte, würde sie die Sache hinschmeißen und sich einen neuen Beruf suchen.
    Als sie sich den Fall, den Bacon ihr aufgehalst hatte, gründlich ansah, kam sie zu dem Schluss, dass sie womöglich doch nicht ihre Zeit damit verschwendete. Die Wasserleiche war nackt angespült worden, und man brauchte nicht Sherlock Holmes zu sein, um zu wissen, dass Selbstmörder normalerweise nicht ihre Sachen auszogen, bevor sie in den Fluss sprangen. Also war es vielleicht doch keine schlechte Idee, einen Detective hinzuschicken, um die Sache unter die Lupe zu nehmen, bevor der
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