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Süden und die Frau mit dem harten Kleid

Süden und die Frau mit dem harten Kleid

Titel: Süden und die Frau mit dem harten Kleid
Autoren: Friedrich Ani
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DIN-A4-Block auf den Tisch, dazu die WA, meine Notizen und einen Standardfragebogen, den sie nur mitgenommen hatte, weil sie erst seit kurzem auf der Vermisstenstelle arbeitete und keine wesentliche Frage vergessen wollte. Und vor allem, weil sie sich nicht von mir korrigieren lassen wollte.
    Sie saß derart konzentriert auf ihrem Stuhl, dass sie vergessen hatte, ihre Mütze abzunehmen. Ich musste an gewisse Damen in Cafés denken, die ihre Hüte, so grotesk es auch aussehen mochte, niemals abnahmen, und ich dachte, vielleicht übt Sonja schon fürs Alter .
    »Frau Ross …«, begann Sonja.
    »Entschuldigung«, unterbrach sie Frau Ross. »Wollen Sie was trinken? Ich hab Kaffee oder …«
    »Nein«, sagte Sonja .
    »Danke«, sagte ich.
    »Stimmt es, dass Sie Ihren Bruder vor einem Jahr zum letzten Mal gesehen haben?«, fragte Sonja .
    Mathilda Ross nickte.
    »Heute vor einem Jahr.«
    Sie nickte.
    »An Ihrem Geburtstag.«
    Sie nickte.
    Wir hatten beide vergessen, ihr zu gratulieren .
    »Herzlichen Glückwunsch!«, sagte Sonja jetzt.
    »Herzlichen Glückwunsch!«, sagte ich .
    »Danke.«
    »Und im letzten Jahr hat Ihr Bruder angekündigt, er wolle sich umbringen«, sagte Sonja.
    So stand es in der Aussage, die uns die Münzinger Kollegen gemailt hatten .
    Mathilda Ross nickte .
    »Hat er einen Grund genannt?«
    »Er ist …« Sie drehte den Kopf zur Seite. Dann sah sie zwischen uns hindurch. »Er hat keine Kraft mehr, er ist … er weiß nicht mehr, was er tun soll, er hat kein Geld, er arbeitet, aber … Mein Bruder ist Maler von Beruf …«
    Auch das stand in dem Bericht.
    Sie suchte nach Worten, vergrub eine Hand in ihren Haaren und hielt die andere waagrecht, wie um zu testen, ob sie zitterte. Die Hand zitterte leicht, und sie legte sie aufs Knie. Lauter ungelenke Bewegungen, und ihr Blick fand im Zimmer keinen Halt. Immer wieder sah sie in die eine Richtung, dann in die andere, betrachtete die Möbel, die schlicht und alt waren, und stützte sich dann mit beiden Händen auf der Sitzfläche ab, als wolle sie jeden Moment aufstehen.
    »In letzter Zeit … in den letzten Jahren hab ich ihm Geld geschickt, nicht viel, ich verdien ja auch nicht viel, ich arbeite in einer Gärtnerei … obwohl ich ausgebildete Floristin bin … Ich hab … Wenn ich was übrig hab, schick ichs ihm, mal zwanzig, mal fünfzig Euro, ich schicks mit der Post, das ist am unauffälligsten, ist noch nie was weggekommen …«
    »Frau Ross«, sagte Sonja.
    Ich ahnte, worauf sie hinauswollte. Geschichten, die einen Fall nicht voranbrachten, machten sie unruhig. Sie redete sich dann ein, jemand stehle ihr kostbare Zeit .
    »Frau …«
    »Ja?«, sagte Mathilda schnell.
    »Außer Ihnen hat niemand Ihren Bruder als vermisst gemeldet, keiner seiner Bekannten und Freunde aus München, wo er lebt. Denen würde doch auch auffallen, wenn er plötzlich verschwunden wäre …«
    »Nein«, sagte Mathilda mit der gleichen leisen Stimme wie bei unserer Begrüßung. »Das fällt niemand auf, wenn der Hanse – wenn der Johann weg ist, der ist doch oft weg, dann bleibt er tagelang in seinem Zimmer und schläft und will niemand sehen, kann ich gut verstehen …«
    Sonja nahm die Blätter aus der Klarsichtfolie. »Ihr Bruder wohnt in der Bauerstraße, wir haben die Adresse überprüft, zwei Kollegen von uns waren dort, niemand hat ihnen aufgemacht. Möchten Sie, dass wir die Wohnung aufbrechen lassen?«
    »Wozu denn?«
    »Es ist doch möglich, dass Ihr Bruder einfach nur schläft, und Sie machen sich unnütz Sorgen.«
    »Er schläft nicht«, sagte sie und sah Sonja in die Augen . »Heut ist mein Geburtstag, da schläft er nicht, er ist weggegangen, um sich … um sich umzubringen. Wieso glauben Sie mir nicht?«
    Sie stand auf, ging zu einem niedrigen weißen, abgeschabten Bücherschrank, auf dem mehrere Flaschen Rotwein und Gläser standen. Sie schenkte sich ein Glas ein und trank.
    »Ich darf das, ich hab heut Geburtstag«, sagte sie .
    »Zum Wohl!«, sagte ich.
    Sonja warf mir einen Blick zu, den ich nicht beachtete .
    Während Mathilda das Glas erneut an die Lippen setzte, stand Sonja ebenfalls auf. »Haben Sie eine Ahnung, wo sich Ihr Bruder aufhalten könnte?«
    »Nein, das hab ich doch schon gesagt, nein, weiß ich nicht, weiß ich nicht, deswegen bin ich zur Polizei gegangen, sonst hätt ich ihn ja selber gesucht!«
    Ich sagte: »Ihr Bruder ist einundvierzig, er kann tun, was er will, vielleicht ist er einfach verreist, vielleicht schläft er in seiner
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