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Süden und das Gelöbnis des gefallenen Engels

Süden und das Gelöbnis des gefallenen Engels

Titel: Süden und das Gelöbnis des gefallenen Engels
Autoren: Friedrich Ani
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berichtet, er hatte zugehört, ein Zigarillo geraucht und gelegentlich an seinem Halstuch genestelt. Thon liebte diese Zusammenkünfte kurz vor Dienstschluss. An einem Tisch zu sitzen, Informationen auszutauschen, Wertungen vorzunehmen, Meinungen offen darzulegen, daraus bestand für ihn das Wesen der Polizeiarbeit. Teamgeist plus Kommunikation ergab nach seiner Rechnung größtmögliche Effektivität.
    Mir gegenüber saßen Martin Heuer und Sonja Feyerabend, die Thons Zigarillorauch mit der Hand wegwedelte, sich aber nicht zu protestieren traute. Neben mir saß Paul Weber, mit neunundfünfzig Jahren der älteste Kommissar der Vermisstenstelle. Insgesamt waren wir dreizehn Beamte im Kommissariat 114. Nach dem Ausscheiden von Klaus Grieg, der zum LKA Berlin wechselte, blieb dessen Stelle fast ein Jahr lang unbesetzt. Dann erfuhren wir, dass sich Sonja Feyerabend beworben hatte. Niemand stimmte gegen sie. Und Funkel hatte nichts dafür getan, ihre Bewerbung intern zu forcieren.
    »Suizid ist hundertprozentig auszuschließen?«, fragte Thon.
    Natürlich sagte ich: »Nein.« Obwohl ich vorher lange erklärt hatte, dass ich nicht damit rechnete und es keine Hinweise in dieser Richtung gebe. Davon war ich überzeugt. Trotzdem musste ich diese Frage mit Nein beantworten. Praktisch gab es keine einzige Vermissung mit einem eindeutigen Nein am Anfang. Dies war eine Angst, die wir nicht zuließen. Eine Angst, die uns beigebracht worden war, vom ersten Fall an. Eine Angst, die berechtigt war und uns vor Fehlern schützte. Vor Fehlern, die nicht zu korrigieren waren. Diese Form der Angst teilten wir mit den Kollegen vom K 112. Sie waren hauptsächlich zuständig für Polizeileichen und Selbsttötungen. Wenn sie bei einer Person, die nicht eines natürlichen Todes gestorben war, ein winziges Detail übersahen oder den Beteuerungen von Hinterbliebenen eines Suizidenten vorschnell glaubten, kam möglicherweise ein Täter unentdeckt davon. Für immer.
    Wenn wir bei einer Vermissung überzeugt davon waren, es handele sich um eine Hupfauf-Sache oder um einen Langzeitaussteiger, der sein Verschwinden exakt geplant und seine Spuren penibel verwischt hatte, die Person aber später tot aufgefunden wurde, gab es niemanden, den wir dafür verantwortlich machen konnten. Niemanden außer uns selbst. Bei einem Verbrechen ebenso wie bei einer Selbsttötung. In den Augen der Angehörigen waren wir dann Gottes elendste Versager. Und vielleicht waren wir das wirklich. Vielleicht hätten wir den Tod verhindern können. Vielleicht hätten wir den Tod verhindern müssen. Warum hatten wir zu lange gezögert? Warum hatten wir die Lage falsch eingeschätzt? Warum waren wir zu routiniert gewesen?
    Davor hatten wir Angst. Es war eine antrainierte Angst. Seit ich in der Vermisstenstelle arbeitete, seit zwölf Jahren, hatten wir immer Glück gehabt. Wir waren wachsam und in keinem Fall nachsichtig gewesen. Und dennoch hatten wir viele Selbstmorde nicht verhindert. Und Verbrechen an Verschwundenen. Wir machten uns deswegen Vorwürfe. Wir sagten nicht, wir hätten alles richtig gemacht, wie sollten wir das jemandem sagen? Entschuldigen Sie, wir haben alles richtig gemacht, wir sind nicht schuld am Tod Ihres Mannes, Ihrer Frau, Ihres Bruders, Ihrer Geliebten? Was Selbstmord betraf, so glaubte ich nicht daran, dass man jemanden, der entschlossen dazu war, an seiner Tat hindern konnte. Das war wie bei den Langzeitaussteigern, sie tüftelten und arrangierten, monate-, vielleicht jahrelang. Und dann waren sie wie vom Erdboden verschluckt. Manche von ihnen hatten längst ein zweites Leben geführt, abseits des offiziellen, allgemein bekannten.
    Nein, ein Selbstmord in der Sache Grauke war nicht auszuschließen.
    Aber ich glaubte nicht daran.
    Ich sagte: »Ich führe morgen ein paar Vernehmungen durch.«
    Genauso gut hätte ich sagen können: Morgen komme ich wieder zur Arbeit.
    Ich wollte hier raus. Es war fast sieben Uhr. Ich hatte meine Aufzeichnungen getippt und ausgedruckt und kopiert, ich hatte mir den E-Bogen mit den Namen der Hausbewohner durchgesehen, ich hatte einen Plan für den nächsten Tag skizziert, ich wollte hier raus.
    »Du arbeitest weiter mit Frau Feyerabend«, sagte Thon. Ich sagte: »Ja.«
    »Ist was?«
    Ich hob die Hand und lehnte mich zurück. Martin schob seine Salem mit der Zunge von einer Ecke des Mundes in die andere. Sonja drehte sich von ihm weg. Was er endlich bemerkte.
    »Entschuldige.« Er drückte die Zigarette aus. »Musst halt was
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