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Süden und das Gelöbnis des gefallenen Engels

Süden und das Gelöbnis des gefallenen Engels

Titel: Süden und das Gelöbnis des gefallenen Engels
Autoren: Friedrich Ani
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Der Rucksack war weg! Ich hab ihn in der Tram vergessen. Zwanzig Mille drin. Mir hing das Herz zum Arsch raus. Ich hab sofort den nächsten Bus abgefangen und dem Fahrer gesagt, er soll in der Zentrale anrufen, damit die dem Fahrer in der Tram Bescheid sagen. Haben die auch gemacht. Geben Sie einen Rucksack zurück, wo zwanzig Mille drin sind? So blöd ist niemand. Was sagen Sie dazu? Was sagen Sie dazu? Ich bin zu blöd, um mit der Straßenbahn zu fahren. Ich bin so lang nicht mehr in einer Straßenbahn gesessen, dass ich den Rucksack da vergess. So blöd ist niemand. Früher sind die Damen Schlange gestanden und haben gewartet, bis ich ihre Absätze fertig hatte, die haben mich immer gefragt, wie ich das schaff, und ich hab gesagt, ich schlaf daheim. In der Meisterprüfung damals hab ich einen Haferlschuh gefertigt mit einer Lederbrandsohle drauf, innen ohne Futter natürlich, damit Sie die Schuhe auch gut barfuß anziehen können. So ein Schuh ist ewig strapazierfähig und elegant dazu. Aber ich bin zu blöd, um mit der Straßenbahn zu fahren. Das kommt davon.«
    »Wovon?«, sagte ich.
    Er sagte: »Vom Rausgehen. Anstatt dass man da bleibt, wo man hingehört.«
    Er starrte mir ins Gesicht. Ich stand höchstens einen halben Meter von ihm entfernt.
    »Ich hab mir überlegt, ob ich den Rest auch noch abheb, ich hab noch zwanzig Mille auf dem Konto. Aber das geht nicht. Die gehören Lotte. Das hab ich ihr versprochen. Versprochen! Was nützt das, wenn Sie was versprechen und können es nicht halten? Was nützt das? Gar nichts. Elke hat ihrer Freundin auch versprechen müssen, dass sie statt ihr ins Paradies fliegt, weil Miriam nämlich todkrank war, die hat am Schluss so wenig gewogen, hat Elke erzählt, dass der Storch sie im Schnabel wieder hätt mitnehmen können. Paket zurück. Ha! Es hat sich ausgewundert.«
    Er schwieg.
    Der alte Mann im zweiten Stock schloss krachend das Fenster.
    »Gehen Sie nach Hause zurück?«, fragte ich.
    »Kein Kommentar.«
    »Was haben Sie vor?«
    »Kein Kommentar.«
    Er streckte mir die Hand hin. Die Nägel waren abgebrochen, die Finger von Narben übersät.
    »Auf Wiedersehen, Herr… Ihren Namen hab ich vergessen.«
    »Spielt keine Rolle«, sagte ich.
    Er bückte sich, um den Schuh aufzuheben.
    »Jan Schuster«, sagte ich. »Straße und Beruf. Und Tinaweg und Eichenlohe?«
    Sein verschobenes Lächeln erinnerte mich an das seiner Frau bei unserer ersten Begegnung.
    »Tina heißt ein spezielles Messer«, sagte er.
    »Und warum Nummer 7?«
    »Tinaweg hat sieben Buchstaben.« Ich schaute zu Boden.
    »Mit einer Eichenlohe-Grubengerbung gewinnt man das beste Leder«, sagte er. »Die Postleitzahl 72831 ist die Bestellnummer im Katalog.«
    Er wischte sich über den Mund.
    »Ich sag Ihrer Frau, dass Sie nicht wieder vorhaben, sich umzubringen.«
    »Das ist die Wahrheit«, sagte er und stemmte die Hand gegen die zufallende Tür.
    Dann klopfte er leise mit dem Schuh in seiner Hand gegen die Tür. »Damals… ich weiß gar nicht, ob ich mich da aufhängen wollt… Wenn die geduldige Frau Mrozek nicht gewesen wär… Schwer zu sagen… Ich hätt es mir vielleicht trotzdem überlegt… Der Ärger, den die Lotte dann wegen mir gehabt hätte, und… ist ja auch peinlich, so ein ausgewachsener Mann, der tot am Baum baumelt…«
    Noch einmal klopfte er mit dem Schuh gegen die Tür, betrachtete ihn, wandte sich ab.
    »Ja?«, sagte ich.
    Er zögerte, in den Hausflur zu treten. Stattdessen drehte er sich noch einmal zu mir um.
    »An dem Sonntag, als ich weg bin«, sagte er, »hat Lotte Tee gekocht, wie immer. Sie hat das Tablett genommen, wie immer. Ich war im Wohnzimmer. Sie kam rein und ich bin erschrocken, weil ich gedacht hab, sie stößt mit dem Tablett gegen den Türrahmen und alles fällt runter und sie ist sauer deswegen und… und schämt sich womöglich… Da hab ich gedacht, wenn wir noch älter sind, wird so was passieren. Und dann bücken wir uns umständlich, und es dauert ewig, bis wir das Zeug aufgewischt haben… Ich hab gedacht, das möcht ich nicht, ich möcht das nicht mit ansehen…«
    Ich wartete einen Moment, dann sagte ich: »Aber Sie wollten doch mit Elke gar nicht mitfliegen, Sie wollten ihr die Reise nur schenken.«
    »Ja«, sagte er. »Ja, ja.«
    Dann drehte er sich um, ging in den dunklen Hausflur und die Tür fiel zu.
    Ich stand da, an derselben Stelle wie vor einer halben Stunde, die Arme verschränkt, in der Stille.
    Von weitem sah ich die Straßenbahn kommen. Als sie die
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