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Süden und das Gelöbnis des gefallenen Engels

Süden und das Gelöbnis des gefallenen Engels

Titel: Süden und das Gelöbnis des gefallenen Engels
Autoren: Friedrich Ani
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als vermisst gemeldet, Sie haben diesmal nicht gesagt, dass Sie Angst haben, er bringt sich um. Er ist einfach weg. Er ist nicht am Donnerstag weg, sondern schon vorher. Anfang der Woche, vielleicht am letzten Wochenende. Sie müssen mir das nicht sagen. Ich finde es heraus. Und wenn Ihr Mann in vier Tagen wieder auftaucht, ist alles in Ordnung und wir sind erleichtert.«
    Sie spitzte den Mund. Dann drehte sie sich um und ging in die Küche. Ich blieb noch eine Weile stehen.
    »Wo bleiben Sie denn?«, rief sie aus der Küche. Ich ging zu ihr. An der Garderobe hingen Jacken und Mäntel in verschiedenen Größen. Frauengrößen, wie mir schien.
    »Ja«, sagte sie. Sie goss Bier in ein Glas. »Ja. Ja. Okay.« Sie stellte die Flasche in einen Bastkorb und trank einen Schluck. »Sie sind ja im Dienst.«
    »Natürlich. Und?«
    »Sonst hätte ich Ihnen ein Bier angeboten.«
    »Tun Sies!«, sagte ich.
    Sie sagte: »Das ist doch ungesetzlich!«
    Ich schwieg. Sie holte eine zweite Flasche aus dem Kühlschrank und ein Glas. Bevor sie einschenkte, nahm ich ihr beides aus der Hand. Ich trank aus der Flasche. Lotte Grauke verkniff sich eine Bemerkung.
    »Wann ist Ihr Mann wirklich verschwunden?«, fragte ich. Sie setzte sich. Auf dem Tisch stand das abgespülte Teegeschirr, auf dem Herd ein Topf, daneben lag ein Holzbrett mit einem Fleischmesser. Die Einrichtung war alt, aber sauber, die Spüle glänzte, auf dem Küchenbord reihten sich bunte Dosen und Flaschen wie für ein Foto sorgfältig hindrapiert. Der Raum war eng, die ganze Wohnung war eng, aber sie wirkte nicht erdrückend, sie wirkte gut bewohnbar zwischen den einfachen Möbeln.
    »Am Sonntag«, sagte sie. Sie nahm einen Schluck. Dann zog sie den Träger der Schürze über den Kopf und faltete die Schürze zusammen.
    »Ist Ihnen nicht zu heiß in der Jacke?«, sagte sie.
    »Nein«, sagte ich.
    »Am Sonntag«, wiederholte sie.
    »Und warum?«
    Das hatte ich sie schon einmal gefragt und sie hatte nicht darauf reagiert, weil sie die Frage unangemessen fand. Das war sie auch. Warum ging einer weg? Darauf gab es nur vier Antworten. Er wollte sich umbringen, er wurde Opfer einer Straftat, er war in einen Unglücksfall verwickelt oder irrte hilflos umher, was vor allem auf ältere Menschen zutraf. Mehr Gründe gab es nicht. Für uns. Alle anderen Auslöser waren nicht wichtig. Nur wenn wir einen Punkt auf dieser Liste ankreuzen konnten, handelte es sich um einen Vermisstenfall. In den Statuten lautete die Formulierung: »Konkrete Gefahr für Leben oder körperliche Unversehrtheit«.
    Liebeskummer zählte nicht dazu. Oder Ärger bei der Arbeit. Oder Überdruss. Oder Langeweile. Ohne konkrete Gefahr weinten die Angehörigen vergeblich. Natürlich nahmen wir ihre Anzeige auf und wir gaben diese auch in den Computer ein. Und wenn wir Zeit hatten, recherchierten wir ein wenig. Aber wir waren nicht zuständig. Wenn Kinder verschwanden, begann die Suche sofort. Bei Kindern bestand immer eine konkrete Gefahr. Erwachsene fielen unter das »freie Bestimmungsrecht«. Sie konnten, frei nach den Worten des Dichters, kräftig genährt aufbrechen, wohin sie wollten. Und Maximilian Grauke hatte nichts anderes getan.
    »Er will sich nichts antun«, sagte seine Frau, »ganz bestimmt nicht. Er ist weg, weil ers bei uns nicht mehr ausgehalten hat.«
    »Bei Ihnen und Ihrer Schwester«, sagte ich.
    »Nein«, sagte sie laut, »bei uns allen, er hatte seine Arbeit satt und alles, die Leute, das Viertel…«
    »Sie auch?«
    »Mich auch.«
    Sie trank aus, blickte zum Kühlschrank, strich über die zusammengefaltete Schürze auf ihren Knien.
    »Und am Donnerstag ist er noch mal zurückgekommen«, sagte ich. Das Bier machte mich noch hungriger.
    »Was?«
    Sie stand auf, ging zum Ausguss, spülte das Glas, trocknete es ab und sah kein einziges Mal zu mir her.
    »Am Donnerstag ist er noch einmal zurückgekommen, und als er weg war, haben Sie Anzeige erstattet. Sein Besuch war der Auslöser. Warum ist er noch mal zurückgekommen?«
    »Das weiß ich nicht!«, schrie sie. Sie ließ das Glas fallen und es zersplitterte. Ein paar Splitter trafen ihre nackten Füße. Mühsam unterdrückte sie einen weiteren Ausbruch. Und Tränen.
    Ich kniete mich hin und zupfte behutsam die Glassplitter von ihren Füßen. Ihre Füße waren kalt. Dann lief sie ins Bad und sperrte ab. Ich hörte Wasser rauschen. Ich lehnte mich im Flur an die Wand. Nach wie vor bewegte sie sich in ihrem Lügenhaus, sie hatte etwas zugegeben, etwas.
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