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Sucht nach Leben - Geschichten von unterwegs

Sucht nach Leben - Geschichten von unterwegs

Titel: Sucht nach Leben - Geschichten von unterwegs
Autoren: Andreas Altmann
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eine Spur inniger, ich wollte wissen, wie weit ich gehen konnte und wie blind und versessen Religion imstande war, jede Ratio, jeden vernünftigen Gedanken auszutricksen. Ich fing zu beichten an. Ich sagte, dass ich kein Amerikaner sei, sondern Deutscher, holte meinen Pass hervor und streckte ihn in die Luft. Ich Narr, ein lausigeres Argument hätte ich nicht vorbringen können, denn »das« konnte nur eine Finte von John sein, um die Behörden in die Irre zu führen. Als Amerikaner hätten sie mich wieder nach Port Vila zurückgeschickt, nicht aber als Deutschen.
    Neben Josef stand Raimond, die zwei waren Freunde. Beide übersetzten, und da Raimond besser französisch als englisch sprach, redete ich mit ihm französisch. Für sie das nächste Zeichen, denn der vor langer Zeit Verschwundene »beherrschte alle Sprachen«.
    Die Chiefs führten mich herum, zeigten mir die Malereien mit dem gekreuzigten John Frum als schwarzem Sohn Gottes (meine helle Hautfarbe schien niemandem aufzufallen), zeigten die Marine-Uniformen, die er »getragen hatte«, sein Hemd mit den Stars and Stripes , kramten zwei Fotos hervor, berichteten voller Enthusiasmus, dass man sie dort gefunden hatte, wo John zum letzten Mal gesehen worden war. Sie galten als sein »Testament«, als handfester Hinweis, dass so ihre zukünftigen Dörfer aussehen würden. Ich erkannte sogleich die Skyline auf einem der Bilder, der Sears Tower leuchtete, zudem verwies ein Pfeil auf die Michigan Avenue . Spontan (und unbedarft) rief ich aus: »Das ist doch Chicago!« Damit lieferte ich den dritten Beweis. Wie sollte einer davon wissen, wenn er nicht göttlicher Herkunft entstammte? Und dass ich so viele Fragen stellte, hatte nichts mit meinem Beruf als Reporter zu tun – als den ich mich gerade geoutet hatte –, sondern mit John, der sicher sein wollte, dass »his people« ihm noch immer ergeben waren. Als sie eine Greisin hereinführten, die ohne zu zögern auf mich zuging, auf mich deutete und sagte: »Das ist der Mann, der mir im Traum erschienen ist«, da ergab ich mich dem kindlichen Wahn, begriff, dass sie jeden meiner Einwände, die ich als Zeugnis meiner »Menschlichkeit« anführte, exakt als das Gegenteil interpretieren würden. Victor Hugo notierte einmal: »Nichts auf der Welt ist so mächtig wie eine Idee, deren Zeit gekommen ist.« Wie unheimlich wahr. Ich war an diesem 28. Oktober ihre (fixe) Idee und kein Wort im Universum hätte sie davon abgebracht.
    Nun, in dieser Nacht auf Tanna, direkt neben den schaumweiß sprühenden Wellen, hatte der Irrwitz zumindest etwas Beschwingtes. Niemand predigte Todsünden und Verdammnis, niemand wollte mit mir den Rest der Menschheit missionieren, niemand mit John, dem göttlichen GI, in den Krieg ziehen. Diese Nacht endete im Rausch und einer letzten Überraschung.
    Nach Mitternacht – bis dahin war ich eben Gott und stand und saß unter meinem Volk, das fröhlicher und begeisterter nicht hätte sein können – machten wir uns auf den Weg zurück zur Lichtung. Kava time. Mir wurden nochmals vier randvolle Schalen angeboten und ich fragte mich, ob ich unter Wildfremden je vergnügter war. Wohl nicht. Wohl nie wieder.
    Hinterher führte mich Josef in sein Dorf, in meine Hütte. Wieder schaute er mir fest in die Augen und sagte »good night«, mit einem Unterton, den ich erst Minuten später verstehen sollte. Denn dann klopfte es leise an meiner Tür und ohne zu warten, trat jemand ein. Eigenartigerweise fühlte ich keine Furcht. Der Schein der Kerze fiel auf eine Frau, die sogleich näher kam und sich an den Rand meiner Matratze setzte. Wie um mir alle Bedenken zu nehmen, ergriff sie meine rechte Hand und führte sie an ihren Körper, eindeutig ein Frauenkörper, ein fester, junger Frauenkörper. Ach, Josef, du Wundermensch. Gestern im Taxi hatte er angedeutet, dass die Gastfreundschaft auf Tanna keine Grenzen kenne. Als ich ihn fragte, was er damit meine, lächelte er. Wollte er mich mit dem Satz ködern? Um ja hierher zu kommen. Ich weiß es nicht. Noch immer nicht.
    Das wurde eine wunderliche Nacht. Das Mädchen fing zu erzählen an, mit lauter Wörtern, die ich nicht verstand. Flüsternd, ohne Unterlass. Als ich ahnte, warum, war es zu spät. Möglicherweise ängstigte sie die Vorstellung, sich dem auferstandenen John Frum hinzugeben. Vielleicht war alles anders und sie wartete nur darauf, dass ich sie verführte. Auf jeden Fall hörte Manatu nicht auf zu sprechen. Mir kam die Geschichte von Scheherazade in
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