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Sucht nach Leben - Geschichten von unterwegs

Sucht nach Leben - Geschichten von unterwegs

Titel: Sucht nach Leben - Geschichten von unterwegs
Autoren: Andreas Altmann
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Stand.
    Irgendwann hatte jemand einen Toyota organisiert. Für mich und Josef, meinen Chauffeur. Wir brachen zum Nachbardorf Sulphur Bay auf, dem Zentrum des Kults. Alle anderen mussten zu Fuß gehen. Sie mussten nicht, nein, sie waren froh, mir folgen zu dürfen. Wäre ich nicht inzwischen dunkelblau geworden von fünf Kava-Ladungen, ich hätte vielleicht nicht die Nerven besessen, mich dem Götzendienst zu fügen. Aber so schien er in Ordnung, ich war John, der Ersehnte, und ich war viel zu neugierig, um auf dieses Spektakel verzichten zu können. Religion als Budenzauber, als Entertainment, von A bis Z erfunden, inszeniert und nachgebetet. Wie wahr. Wie vor fünftausend Jahren, wie vor zweitausend, wie heute. Ich wollte es wissen, ein solcher Tag, eine solche Nacht würden nie wiederkommen.
    Was nun geschah, war so überraschend nicht. Als die Alliierten Ende 45 abzogen, entstand der »Cargo Cult«. Auf vielen Südseeinseln. Die Einwohner bauten Häfen und Flughäfen als kindliche Imitate nach, bastelten Antennen aus Schilfrohr, zündeten nachts Feuer entlang der »Landepisten« an, alles, um die Götter zu überreden, wieder hier anzulanden. Denn sie hatten ja vorher die Gott-Amerikaner mit ihren riesigen Flugzeugen und Schiffen gesehen, gesehen die ungeheuerlichen »Erscheinungen«, die daraus hervorkamen. Deshalb die Bambus-Towers und Bambus-Quais. Auf dass die Himmlischen zurückkehrten und sie reich beschenkten. Mit cargo , mit Fracht, mit viereckigen, vierrädrigen Kästen, die rasten, mit Schachteln, aus denen Stimmen und Musik drangen, mit Eisenrohren, die viele auf einmal totmachen konnten.
    Josef, der Profi, fuhr gut, trotz der drei oder vier Promille im Kopf. Aber hier gab es keinen Gegenverkehr und niemanden, der zu einem Alkoholtest aufforderte. Bald erreichten wir ein viereckiges Areal, groß wie ein Fußballfeld. In das Grollen des Vulkans mischte sich jetzt das Rauschen der Schwefelbucht. Über zweihundert Männer und Frauen waren gekommen, viele mit Fackeln, jemand schlug eine kolossale Trommel, vier spielten auf wuchtigen Gitarren. Alle wiegten die Körper, alle sangen. Es war das immer gleiche Lied, tief, melodisch, eine Beschwörungsformel an ihn, den vor sechzig Jahren Verschollenen. Zehn »Wächter« umschritten das Viereck.
    Heute war Freitag, ihr »Sonntag«, denn – so die Legende, so eine Legende – an diesem Wochentag »verschwand« John F. Und die Szenerie, in die mich Josef nun hineinfuhr, war so grandios und urplötzlich, dass ich schlagartig nüchtern wurde. Das gelbe Feuer der Fackeln, die schwarzen, ekstatischen, mit Asche bedeckten Körper, ihr Gesang, der rote, donnernde Himmel, der Mond, die Wellen, die drei wehenden Flaggen der US-Navy, der Vereinigten Staaten, von Tanna. Phantastisch, was für ein fehlerloses Gespür für Drama und Dramatik sie besaßen, wie begabt sie waren für die fulminantesten Inszenierungen. Unbeirrbar und siegessicher führten sie den Zinnober vor, stellten die Insignien der Ekstase aus, waren mit wirren, irren Augen der Natur verfallen, einer Landschaft, die mit einem famosen Timing alle hier Versammelten anspornte, ja Nacht und Feuer und Donner mobilisierte, alles aufbot, um zum Glauben an Wunder zu verführen, an das Spiel höherer, nein, höchster Mächte. Völlig absurd schien in diesem Augenblick die Erkenntnis, dass nichts als Millionen Jahre alte evolutionäre Kräfte am Werk waren, nein, millionenfach nein, John war unter uns, seine Heerscharen ließen die Insel beben und Engel fauchten über den Pazifik, damit er sich aufbäumte und als gigantischer Speichel der Götter die Küste von Sulphur Bay erreichte. Vollkommen logisch, dass Josef mir jetzt zuraunte, dass kein »normaler« Außenstehender je an einer solchen Zeremonie teilgenommen hatte. Auch der Satz war wichtig, um in ihm das Gefühl von Exklusivität und Zauber noch zu bestärken.
    Ich wurde in einen Unterstand geführt. Hier saßen sieben Männer, sieben Frauen, und zwei »chiefs«, Chefs aus anderen Dörfern. Alle begrüßten mich herzlich und ehrfurchtsvoll. Josef stellte mich vor, pro forma, alle wussten bereits von mir, unwiderruflich war ich der, auf den sie so lange gewartet hatten. Der absolut letzte Beweis war das »Verhör« bei der Polizei. Warum sonst – wäre ich nicht John Frum? – hätten sie versucht, mich aufzuhalten?
    Als ich in die so ergebenen, vor Bewunderung glühenden Augen der Anwesenden blickte, geschah etwas Unvorhergesehenes. Der Teufel ritt mich noch
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