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Sturz in den Tod (German Edition)

Sturz in den Tod (German Edition)

Titel: Sturz in den Tod (German Edition)
Autoren: Anke Gebert
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Runde
schaute. Ein älterer Mann mit Stirnglatze sprang wiederholt auf, sah durch das
Fernglas, das er um den Hals trug, und kommentierte lautstark jedes Boot, das
auf der Ostsee zu sehen war, »die großen Pötte« und »die kleinen Pötte«. Die
großen Pötte faszinierten ihn besonders. Eine übergewichtige Frau, die einen
Schutzhelm auf dem Kopf trug, tanzte zwischen den Strandkörben hin und her.
Eine andere pflückte Gänseblümchen. Die Betreuer hatten sich separiert und
unterhielten sich entspannt.
    Pasquale konnte den Blick nicht von jener so unbefangenen Gruppe
Menschen abwenden. Er bemerkte, dass er hier auf dieser Blumenwiese, an diesem
Ort mit dem sagenhaften Blick übers Meer, trank und rauchte, als hätte er kein
Recht, dort zu sein. Gehetzt sah er auf die Cartier an seinem zitternden
Handgelenk. Als hätte er keine Zeit … Doch, er hatte Zeit. Und in Zukunft
würde er seine Zeit auch genießen können.
    ***
    »Oh Gott, Nina! Was erzählst du mir denn da?«
    Ja, weshalb hatte sie es ihrer Mutter eigentlich erzählt? Sie hatte
es schon in dem Moment zu bereuen begonnen, als sie das viele Geld in der
Tasche in Frau Bergmanns Schrank auch nur erwähnt hatte.
    Die Mutter fasste sich an den Rücken.
    »Oh Gott, es geht wieder los.«
    Nina half ihrer Mutter vom Stuhl auf und führte sie zum Sofa.
    »Das kommt, weil du heute schon wieder den ganzen Tag durchs Haus
geturnt bist.«
    »Einer muss es doch machen!«, jammerte die Mutter.
    »Ich bin jetzt hier, ich werde alles machen, bis dein Rücken wieder
fit ist.« Nina vermutete, was ihre Mutter sicherlich sogar wusste. Die
Schmerzattacken im Rücken wurden nicht durch ein Bandscheibenleiden ausgelöst,
sondern waren psychosomatisch bedingt. Angefangen hatte alles vor einem Jahr,
als klar wurde, dass Ninas Mutter Marianne den kleinen Laden, den sie seit über
dreißig Jahren in der Geschäfts- und Restaurantpassage neben dem Hallenbad
betrieb, tatsächlich aufgeben musste. Über dreißig Jahre lang hatte sie dort im
Sommer Getränke, Sandeimer, Schaufeln, Eis und Seehunde aus Plüsch verkauft. Im
Winter Glühwein, Mützen und Schals. Nina hatte dort in der Schulzeit ihre
Nachmittage und Wochenenden verbracht, hatte in Sichtweite ihrer Mutter am
Strand gespielt oder war baden gegangen. Jedes Mal, wenn fremde Kinder sie am
Strand auf ihre schönen Schaufeln oder Backformen ansprachen, hatte sie stolz erzählt,
dass ihre Mama die in ihrem Geschäft verkaufte, was meistens nach sich zog,
dass die Kinder ihre Eltern so lange anbettelten, bis ihnen in Mutters Laden
eine neue Strandspielausrüstung gekauft wurde.
    Der Laden war für Nina und ihre Mutter wie ein Zuhause
gewesen – und für manche Kunden auch. Frau Georg und Herr Kogel zum
Beispiel waren dreißig Jahre lang jeden Morgen gekommen, um Zigaretten und die
Bildzeitung zu kaufen. Bei einem Pott Kaffee hatten sie dann noch einen
Klönschnack mit Ninas Mutter gehalten. Der Laden hatte nicht so viel abgeworfen
wie das Speiserestaurant oder die Boutique in der Nachbarschaft, doch zusammen
mit den Einnahmen aus den Putzjobs im nebenan liegenden Maritim hatte es für
Marianne Wagner und ihre Tochter gereicht. Dreißig Jahre lang, und es war allen
selbstverständlich erschienen, dass es ein ganzes Leben lang reichen würde.
Dann plötzlich das Aus. Auch als die Schwimmhalle nach und nach verfiel, hatte
sich kein Travemünder vorstellen können, dass sie jemals abgerissen werden
würde. Travemünde brauchte doch ein Schwimmbad für die Urlauber, als
Schlechtwettervariante und für den Winter! Nina erinnerte sich, wie aufregend
es gewesen war, das erste Mal den gläsernen Turm hochzuklettern und durch die
blaue, durchsichtige Riesenrutsche direkt über Mutters Laden hinwegzugleiten.
    Als die Schwimmhalle vor einigen Jahren geschlossen wurde, war Nina
das gleichgültig gewesen, denn sie hatte längst ihr neues Leben in Hamburg
begonnen. Trotz der vielen Ankündigungen, dass auch die Ladenzeile am
Schwimmbad neuen Bauvorhaben zum Opfer fallen würde, hatte niemand daran
glauben wollen. Die Protestbewegung, die sich für den Erhalt der alten
Geschäfte einsetzte, würde Erfolg haben, da waren sich alle Betroffenen sicher.
Als dann per Einschreiben der Brief kam, in dem in drohendem Ton der
Abrissbagger angekündigt wurde, gab Ninas Mutter schließlich auf. Sie räumte,
sie verramschte, sie verschenkte.
    Als der Laden leer war, schoss ihr der Schmerz in den Rücken. Erst
schob sie es auf den anstrengenden
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