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Sturz in den Tod (German Edition)

Sturz in den Tod (German Edition)

Titel: Sturz in den Tod (German Edition)
Autoren: Anke Gebert
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davon gut leben.
    Trave und Meer waren ruhig. Am Horizont standen die Windräder still.
    Plötzlich verdunkelte es sich einen Moment lang vor Ninas Augen. Für
die Länge eines Wimpernschlags schien etwas von oben in die Tiefe gefallen zu
sein. Dann war durch das geschlossene Fenster ein dumpfer Aufschlag zu hören.
    Nina riss das Fenster auf. Doch sie konnte nichts sehen, denn vor
dem Fenster war ein Laubengang, der als Notausgang diente und von der Kammer
aus nicht einzusehen war. Ein Schrei war zu hören. Dann noch einer. Nina eilte
hinaus, über den Flur ins Freie. Sie beugte sich über die Brüstung.
    Auf dem Vorbau im ersten Stock des Hotels lag ein Mensch. Ein Mensch
im weißen Bademantel.
    Zwei, drei, vier, immer mehr Leute blickten von ihren Balkonen aus
hinüber zu der reglosen Person. Manche hielten sich entsetzt die Hände vor den
Mund. Nina eilte zum Fahrstuhl und fuhr hinab ins dritte Stockwerk. Dort nahm
sie den Notausgang und sah auf das Dach des Vorbaus der Residenz. Die Frau, die
dort auf der alten, mit grünem und rotem Moos bewachsenen Dachpappe lag, hatte
verdrehte Beine, Arme, als gehörten sie nicht ihr, aufgerissene Augen und
Haare, die nass waren von Blut und Hirn.
    Es war Frau Bergmann. Die Fußnägel weinrot lackiert, der nackte
Unterleib entblößt.
    Nina wich zurück. Sie lehnte sich mit dem Rücken gegen die Brüstung
und sah nach oben in die schwindelerregende Höhe zum dreißigsten Stockwerk, aus
dem Frau Bergmann vermutlich gefallen war.
    Wie konnte das passieren?
    War sie etwa gesprungen?
    Von Weitem war ein Martinshorn zu hören. Nina wunderte sich, wie
viele Leute inzwischen von Balkonen nach unten sahen. Das Maritim hatte heute
Morgen beinahe leer gewirkt.
    Der Notarztwagen kam die Einfahrt der Residenz herauf. Das  Martinshorn verstummte abrupt. Eine Sekunde
lang war es still in Travemünde, totenstill.
    Dann rief der Pförtner: »Hier entlang!« Notarzt und Sanitäter
folgten ihm.
    Auf dem Dach beugten sie sich zu dritt über die alte Frau. Der Arzt
schüttelte fast unmerklich den Kopf.
    Nina wandte sich ab und durchquerte die Eingangshalle des Hotels.
Kein Mensch in der Lobby, kein Mensch an der Rezeption. Sie stieg die
Marmortreppe zum Ausgang hinab.
    Draußen blendete die Sonne sie. Die weißen Segelboote auf der
türkisblauen, stillen Ostsee, die gelben, in Reih und Glied stehenden
Strandkörbe, der helle Strand – alles kam Nina plötzlich wie eine
unwirkliche Bilderbuchansicht vor, so wunderschön, so heil. Zu heil.
    Nina verharrte einen Moment auf der Promenade. Menschen standen in
Badebekleidung neben ihren Strandkörben und starrten zum Maritim her. Eine
große graue Möwe stürzte über Ninas Kopf auf den Weg hinab, um sich mit ihrem
dicken Schnabel ein Stück trockenes Brötchen zu schnappen, das auf dem Pflaster
lag. Nina spürte die Krallen fast in ihrem Haar. Sie ging weiter – und es
war ihr, als würden ihr all die Leute vom Strand aus nachsehen.
    ***
    Pasquale Schöne ging zügigen Schrittes an der Steilküste
entlang. Gehen, gehen, bis die Gedanken nicht mehr kreisten. Atmen, durchatmen.
Niendorf war sein Ziel. Er war noch nicht mal auf Höhe des alten Golfplatzes,
kurz hinter Travemünde, als er kaum noch Luft bekam. Die Felder mit spät
blühendem Raps nahm er heute nicht wahr. Die wenigen Spaziergänger, die ihm an
diesem Wochentag entgegenkamen, ebenfalls kaum. Nur die Sandkratzer, wie er
Frauen mit Nordic-Walking-Stöcken verächtlich nannte, registrierte er, weil sie
ihm wegen des Geräusches, das sie mit ihren Stöcken machten, schon von Weitem
auf die Nerven gingen.
    Pasquale Schöne schob die Sonnenbrille zurecht und wandte sein
Gesicht ab, als die Gruppe mit den Stöcken an ihm vorbeikratzte. Obwohl er es
eilig hatte, machte er auf der Hermannshöhe halt. Bis jetzt war nur eine
Imbissbude geöffnet. Eigentlich hatte Pasquale vor, Kaffee zu trinken, holte
sich dann aber ein Bier. Auf dem Weg zu einer der langen Bierbänke machte er
kehrt und kaufte sich noch ein Fläschchen Jägermeister dazu. Am liebsten hätte
er es bereits auf dem Weg zum Tisch ausgetrunken.
    Die paar Strandkörbe, die für Gäste der Imbissbude hier oben
bereitstanden, waren belegt. Eine Gruppe geistig behinderter Erwachsener machte
gerade auf einem Ausflug Station und hatte sichtlich Spaß. Zwei von ihnen saßen
knutschend in einem Strandkorb – in den kurzen Pausen zwischen zwei langen
Küssen lachte das Mädchen aufgekratzt, während ihr Begleiter stolz in die
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