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Sturz in den Tod (German Edition)

Sturz in den Tod (German Edition)

Titel: Sturz in den Tod (German Edition)
Autoren: Anke Gebert
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dem, was sie tat, nur einer Frage auswich: War das
viele Geld im Schrank noch da?
    Sie öffnete den Schrank. Auf den ersten Blick sah sie, dass die
Tasche mit dem goldenen Engelskopf anders dastand, als Nina sie am Morgen
hingestellt hatte. Nina ließ den Verschluss aufschnappen. Die Tasche war leer.
Als könnte sie sich getäuscht haben, zerrte sie die Tasche hervor und sah noch
einmal hinein. Leer. Nina hockte davor, ließ sich auf die Knie sinken.
    Ratlos sah sie sich um.
    In der Tür stand ein Mann, der sie anstarrte. Nina schrie vor
Schreck auf.
    »Was tun Sie hier?«, fragte der Mann.
    Nina sprang auf.
    »Können Sie mir bitte sagen, was Sie hier machen«, wiederholte der
Mann.
    Nina hatte darauf keine Antwort. Sie ging auf den Mann zu und
streckte ihm die Hand entgegen. »Ich bin Nina Wagner. Ich putze hier.
Ich …«
    Der Mann nahm ihre Hand nicht und sagte: »Kriminalpolizei.« Er sah
auf Ninas Korbtasche, aus der die zusammengerollte Strandmatte aus Bast ragte,
das blaue Handtuch mit den Segelbooten lag obenauf. Er sah auf die Flip-Flops,
in denen ihre Füße mit dem leicht abgeblätterten roten Nagellack steckten.
    »Ich habe hier heute geputzt und etwas vergessen. Ich habe einen
Schlüssel.«
    Der Fremde sah auf den offenen Schrank. Er nahm sein Handy aus der
Jackentasche und drückte eine Nummer. »Kannst du mal hochkommen«, sagte er und
steckte das Telefon wieder ein.
    »Was haben Sie vergessen?«, fragte er Nina.
    »Ich musste noch etwas wegräumen.«
    »Ich glaube eher, Sie suchen hier nach etwas. Sie sind hier
eingebrochen.«
    »Nein! Ich habe einen Schlüssel!« Nina hielt ihm zum Beweis den
Schlüssel hin.
    Ein zweiter Mann erschien in der Tür. Auch er schien es ernst zu
meinen.

DREI
    Ein Tag im Winter, Monate zuvor
    Der Arzt sollte recht behalten. Ihr
blieben keine Folgen von dem Schlaganfall zurück. Keine Lähmungen, keine
Sprachstörungen. Die Erinnerungen, die ihr fehlten, hatten ihr auch schon vor
dem Schlaganfall gefehlt. Erinnerungen an die Momente, in denen sie als Kind
neben sich getreten war. Als würde das, was ihr angetan wurde, oder das, was
sie tat, nichts mit ihr zu tun haben. Diese Fähigkeit besaß sie heute noch. Sie
war froh darüber, denn so musste sie all das nicht machen, was die anderen
taten: »darüber« reden, »darüber« schreiben, sich therapieren lassen, anklagen
und um Wiedergutmachung kämpfen. Seit ein paar Jahren machten das viele, die in
Kinderheimen untergebracht gewesen waren, die meisten etwa so alt wie sie.
Hatten wohl lange funktioniert und waren dann eines Tages zusammengebrochen. So
wie sie nun offenbar auch, als sie den Schlaganfall hatte. Sie könnte das Heim
verklagen, in dem sie seit Anfang der sechziger Jahre gewesen war, die
katholischen Schwestern.
    Aber das wäre absurd. Das Heim gab es längst
nicht mehr. Die Schwestern waren vermutlich inzwischen tot. Sie würde sich
niemals zum Opfer stilisieren. Das war nicht ihre Art. Den Schuldigen zu
suchen, denjenigen, der dafür gesorgt hatte, dass sie als Baby ins Heim
kam – das war ihre Art.
    Eigentlich ein Glück, dass sie schon als Baby ins
Heim gekommen war. Denn so hatte sie niemals ein wirkliches Zuhause
kennengelernt. Ein Zuhause mit Mutter, Vater, Kind. Sie wusste nicht, was eine
Mutter ist. Sie hat erlebt, wie andere Kinder im Heim litten, die erst mit fünf
oder sechs Jahren abgeliefert worden waren. Wie die Kinder sich täglich nach
ihren Müttern gesehnt hatten, gleichgültig, was diese ihnen angetan hatten. Wie
sie geweint und gehofft hatten, dass ihre Mütter bald kämen, sie abzuholen oder
wenigstens zu besuchen. Wie sie daran zerbrochen waren, wenn das nicht geschah.
Und es war meistens nicht geschehen.
    Romy hat das Heim lange nicht in Frage gestellt.
Das Heim war ihr Zuhause, das Normale. Sie kannte nichts anderes. Sie hatte
keinen Vergleich. Glaubte, alle Kinder wuchsen auf wie sie selbst –
gemeinsam mit den vielen anderen Kindern, den Schwestern. Glaubte, der
Speisesaal, die Schlafsäle und das »Besinnungsstübchen«, in das man zur Strafe
kam, wären ein Zuhause. Romy musste oft ins Besinnungsstübchen. Es hat ihr
nicht viel ausgemacht. Es war das Normale.
    Sie hatte lange funktioniert. Auch dann noch, als
sie wusste, dass die vielen Momente, in denen sie neben sich getreten war und
zugesehen hatte, was ihr geschah, nicht normal gewesen waren. Dass man ihr
vieles nicht hätte antun dürfen.
    Bisher hatte sie sich nie als Opfer gefühlt.
Damit das so blieb, musste sie den
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