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Sturm ueber Thedra

Sturm ueber Thedra

Titel: Sturm ueber Thedra
Autoren: Michael Stuhr
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halbherzig. Ysell war entlassen. Ohne noch ein Wort zu sagen, verzog sie sich unauffällig ins Bett und rollte sich auf ihrem Platz an der Wand zusammen.

    Zwei Handmaß nach Hochsonne war Ysell am folgenden Tag auf dem Platz der Wachen. Mürrisch ließ sie sich von einem feixenden Stadtsoldaten ihr Werkzeug, einen riesengroßen, ausgefransten Besen und eine Holzschaufel, aushändigen und machte sich ans Werk. Tief stieß sie die Schaufel in den ersten, flachen Sandhaufen, der sich an der Treppe zum Haus der Wachen angelagert hatte. Vor Ärger und Anstrengung schnaufend trug sie den Sand dann ein paar Schrittmaß weit zu dem Karren, der später den Abfall vor die Stadt bringen würde. Die Schaufel war zu voll und Ysell verstreute den halben Sand auf dem kurzen Weg. - Jedes Körnchen davon würde sie nachher auffegen müssen. Wütend und verbissen arbeitete sie weiter und tatsächlich waren nach einiger Zeit die größeren Sandhaufen verschwunden. Nun erst ging es wirklich ans Fegen.
    Schon bald, nachdem Ysell zu arbeiten begonnen hatte, waren andere Kinder aufgetaucht, um ihr die Plackerei zu „erleichtern“. Im Wesentlichen sah dieser „Beistand“ so aus, dass sie die arme Fronarbeiterin mit ungelenken Sprüngen umtanzten und sie dabei nach Kräften verhöhnten. Erst ein paar heftige Angriffe mit dem hoch erhobenen Besen konnten die Bande davon überzeugen, dass es Ysell egal war, ob die Wachen sie beobachteten oder nicht. Da war es doch erheblich sicherer, ein wenig Abstand zu wahren und die Schmähungen dafür ein wenig lauter herauszubrüllen.
    „He, Ysell, da liegt noch ein Stäubchen!“, schrie der dumme Eisor quer über den Platz, wobei er höhnisch grinsend in die Ecke bei den Schafställen zeigte. „Mach das weg!“
    Ysell hatte sich inzwischen wieder einigermaßen beruhigt und ignorierte den blöden Tölpel vollständig. Eisor war nur ein knappes Jahr älter als sie, und hatte ihr überhaupt nichts zu sagen. Still und verbissen fegte sie weiter den Hof vor der Wache, so wie der Richter es gefordert hatte.
    „Ysell!“ Eisor gab keine Ruhe. „Hier ist Dreck - mach ihn weg!“ Beifall heischend sah er sich zu den anderen Kindern um, die mit ihm hierher gekommen waren, um sich an Ysells Schmach zu weiden.
    „Hier ist Dreck - mach ihn weg!“, fielen ein paar helle Stimmen ein und wenige Augenblicke später skandierte der ganze Chor den kurzen, einfältigen Vers; dazu schlugen die Kinder im Takt die Hände zusammen.
    Ysell spürte Wut in sich aufsteigen. Ein Kribbeln stieg ihren Rücken hinauf und konzentrierte sich im Nacken, knapp unter dem Haaransatz. Ihr wurde es heiß und ihre Hände krampften sich um den Besenstiel. Ysells Gesicht jedoch zeigte den Ausdruck von Gleichmut und Langeweile. Jedes Anzeichen von Ärger hätte die Bande zu weiteren Gemeinheiten gereizt, das wusste sie. - Und noch eines war sicher - lange würde sie sich das sowieso nicht mehr gefallen lassen!
    Plötzlich stürmte ein kleines Mädchen an Eisor vorbei in den Schafstall und kam sofort mit zwei Händen voll schmierigen Strohs zurück. „Hier ist Dreck - mach ihn weg!“, kreischte es vergnügt und warf die stinkenden Halme mitten auf dem Platz hoch in die Luft.
    Das war zu viel! Vor Wut aufbrüllend schoss Ysell auf das erschreckt zurücktaumelnde Kind zu, holte weit mit dem Besen aus und ließ ihn mit voller Wucht im Halbkreis knapp über das Pflaster zischen. Der Schlag riss dem Mädchen die Beine unter dem Körper weg, so dass es klatschend auf das Steinpflaster schlug.
    Jäh verstummte das Geschrei der anderen Kinder und Ysell blieb ernüchtert stehen. Totenblass vor Schmerz und halb betäubt richtete das Mädchen sich auf und schaute ungläubig auf seinen Unterschenkel, der an einer Stelle leicht abgewinkelt war, wo er niemals hätte abgewinkelt sein dürfen.
    Endlose Augenblicke lang stand Ysell da und schaute auf das Kind hinab, das in stummem Schmerz sein Bein umklammert hielt und mit angstverzerrtem Gesicht zu ihr aufsah. Andere Gesichter tauchten auf. Gesichter von Kindern und Erwachsenen, die sich zu dem Mädchen hinunterbeugten und sich dann und wann Ysell zuwandten. Es war wie ein Alptraum, denn was Ysell in den Gesichtern sah, war reiner Abscheu vor ihr und ihrer Tat. Schuldig! - Das war es, was Ysell in allen Gesichtern las. Jetzt fing das Mädchen an laut zu weinen, und der Ausdruck in den Gesichtern der Menge wandelte sich zu nacktem Hass. Nichts wünschte sich Ysell mehr, als alles ungeschehen zu machen.
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