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Stummer Zorn

Stummer Zorn

Titel: Stummer Zorn
Autoren: Charlaine Harris
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erstaunt. Ich verstand, daß Knolls die Schande einer zufälligen Vergewaltigung ertragen mochte, allerdings sicherlich nicht am hellichten Tag.
    „Ein weißes Mädchen?" Ich kniff mich selbst heftig. Ich war geradewegs ins selbe alte Verhaltensmuster zurückgefallen. Die erste Frage, immer die erste Frage, wenn irgendwem irgend etwas zugestoßen war, sei es Ruin, Entfuhrung, Überfall, plötzlicher Tod oder der Sieg in einem Wettbewerb: Sind sie Weiße? Ist sie eine Schwarze?
    „Ja. Eine Studentin im ersten Semester namens Heidi Edmonds. Sie wollte noch in ein paar Kurse reinkommen, ehe das Wintersemester anfing." Nachdem sie die Soße probiert hatte, fügte Mimi eine Prise Salz hinzu.
    „Mir ist nicht klar, warum ein Verbrechen immer so viel schlimmer erscheint, wenn das Opfer brav und tugendsam ist", sagte sie nachdenklich, „aber das tut es doch, oder? Heidi war alles an ihrer High School, Nickie. Abschiedsrednerin, Honor Society, National Merit Stipendiatin. Die Sorte Studentin, die wir liebend gerne aufnehmen. Da ich dem Zulassungsgremium angehöre, hatte ich ihre Bewerbungsunterlagen gesehen und habe sie auf einem dieser Punsch-und-Kekse-Empfange getroffen."
    Also kannte Mimi das Mädchen. Heidi Edmonds' kleine Tragödie nahm Gestalt an. Ich rutschte auf der Bank der Eßecke, um mehr Platz für die Katzen zu schaffen; Attila und Mao lobten mich schnurrend für meine Einsicht. Mimi war endlich zufrieden mit der Soße für das Fleisch, drehte sich um und lehnte mit der Hüfte am Herd.
    „Es ist so schön, dich einfach da sitzen zu sehen", sagte sie.
    „Es kann nicht halb so gut aussehen, wie es sich anfühlt."
    Aber der warme Augenblick verging, als sich Mimis Gesicht wieder anspannte. Sie wollte ihre Geschichte zu Ende erzählen. „Sie war auf dem Weg, der sich durch die Gärten schlängelt. Er verläuft indirekt von der Bibliothek zum Wohnheim der Frauen - erinnerst du dich?
    Es ist Jahre her, daß du das letzte Mal auf dem Campus warst; ich vergesse das immer wieder." Ich erinnerte mich vage. Ich nickte.
    „Dann erinnerst du dich natürlich auch, wie hoch die Kamelien sind? Sie sind so alt wie die Hügel, einfach riesig, und sie wachsen dort auf beiden Seiten des Fußwegs. Sie hatte einen ganzen Arm voller Bücher, weil sie bis kurz vor Toresschluß, so gegen neun, in der Bibliothek gelernt hatte. Es war zu dem Zeitpunkt noch nicht lange dunkel - du weißt ja, wie lang es im Sommer hell ist. Aber es war dunkel."
    Jetzt, im Spätsommer, war es um halb acht dunkel draußen. Die geheimnisvolle Nacht jenseits des Erkerfensters machte mir plötzlich Angst. Ich stand auf, um die dreiteiligen Fensterläden zu schließen, die die einzelnen Fensterabschnitte abdeckten. Ich wollte nichts mehr hören. Aber Mimi, befand ich, würde mich für egoistisch und herzlos halten, wenn ich ihr jetzt das Wort abschnitt.
    Sie war schon immer eine gute Geschichtenerzählerin gewesen. Mit ihren schmalen Händen und dunklen Augen veranschaulichte sie ihre Erzählung.
    „... er war in den Kamelien oder ein Stück daneben. Er kam durch die Büsche und packte sie von hinten. Sie ließ all ihre Bücher und Mitschriften fallen. So hat man sie gefunden - ein Pärchen, das auf der Suche nach einem Ort zum Knutschen war. Sie fragten sich, warum der ganze Gehweg voller Bücher lag."
    „Sie war tot?" Ich dachte an graues Haar und rotes Blut auf einem schmutzigen Gehsteig. Die Frau war mir seit Mimis Anruf nicht mehr durch den Kopf gegangen. Ich spürte, wie sich Gänsehaut auf meinem Arm bildete.
    „Nein. Bewußtlos. Offenbar ist sie gefallen und mit dem Kopf auf den Beton aufgeschlagen, als er sie packte. Er hat sie vom Gehweg ins Dunkel geschleppt, sie vergewaltigt und auf sie eingeschlagen." Mimis Stimme wurde immer kühler, wie jedes Mal, wenn sie über schwierige Dinge sprach. „Vielleicht... ich denke, er wollte daß sie das Bewußtsein wiedererlangte, damit sie nichts verpaßte. Ihr Gesicht war ziemlich übel zugerichtet."
    Die Muskeln meines eigenen Gesichtes spannten und verkrampften sich. Ins Gesicht geschlagen. Was, wenn jemand das mit mir in New York gemacht hatte, als ich noch ganz am Anfang stand?
    „Ich habe sie im Krankenhaus besucht — stellvertretend für das College, weißt du. Der Dekan der Frauen war nicht in der Stadt. Jeff Simmons — du erinnerst dich sicher nicht an ihn, er ist mittlerweile Präsident des Colleges — sagte immer wieder, es sei besser, wenn ich hingehe als er, da ich auch eine Frau bin."
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