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Stumme Zeugen

Titel: Stumme Zeugen
Autoren: authors_sort
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und stiegen aus. William befürchtete,
die Fische könnten ihn riechen, weil seine Kleidung nach dem Parfüm stank, aber Annie erklärte ihm, dass Fische keinen Geruchssinn hätten. Dabei wusste sie absolut nichts über Fische.
     
    Vielleicht glaubte Annie, die Männer würden sie und William nicht sehen, weil das dunkelgrüne Plastik der zu Regencapes umfunktionierten Müllsäcke so gut mit den Farben der dichten Vegetation verschmolz. Möglicherweise hatten die Männer nur nach einem anderen Fahrzeug Ausschau gehalten, keines gesehen und daraufhin angenommen, sie wären allein. Damit, dass in dieser Gegend jemand zu Fuß unterwegs sein könnte, rechneten sie mit Sicherheit nicht. Aber Annie sah sie, vier Männer im Profil in einem weißen Geländewagen, der auf einem Campinglatz geparkt war.
    Unter dem tropfenden Laubdach war es nass und dunkel, und es roch nach Kiefernharz, Lehm und der Gischt des Flusses. Abgesehen von dem weißen Fahrzeug wirkte der Campingplatz verwaist. Neben dem Geländewagen befanden sich ein Picknicktisch und eine verkohlte Feuerstelle.
    Annie sah, wie der Fahrer ausstieg, die Tür zuschlug und sich umsah. Dann drehte er sich wieder zu dem Fahrzeug um. Er war in den mittleren Jahren oder älter, aber schlank und fit. Sein weißes Haar war kurz geschnitten, das schmale Gesicht gebräunt. Die anderen Türen öffneten sich, drei weitere Männer stiegen aus. Sie trugen legere Regenjacken, einer eine Baseballkappe. Dieser Mann stellte ein Sixpack auf den Picknicktisch, öffnete vier Bierflaschen und steckte die Kronkorken in die Jackentasche.
    Auf Annie wirkte es, als würden die Männer einander gut
kennen - sie plauderten, nickten sich zu und lächelten. Verstehen konnte sie nichts, da hinter ihr der Fluss lärmend brauste. Der Mann mit der Baseballkappe verteilte die Bierflaschen und nahm selbst einen großen Schluck. Sie tranken im Stehen, setzten sich nicht an den Picknicktisch. Wahrscheinlich, weil alles nass ist, dachte Annie.
    Durch das Plastik spürte sie, dass William ihren Arm berührte. Als sie ihn anblickte, zeigte er auf den Weg und gab so zu verstehen, dass er verschwinden wollte. Annie bedeutete ihm mit einem Zeichen, er solle noch einen Moment warten, und blickte wieder zum Campingplatz hinüber. Sie fand es spannend, diese Fremden heimlich zu beobachten. Männer waren für sie zugleich faszinierend und abstoßend. Was vielleicht daran lag, dass ihre Mutter so viele Männer anzog.
    Was dann geschah, war entsetzlich.
    Der Fahrer schien zu dem Geländewagen zurückgehen zu wollen, wirbelte aber plötzlich herum, bohrte einem Mann mit welligem Haar einen Finger in die Brust und sagte anscheinend etwas Unfreundliches. Der Mann stolperte ein Stück zurück, offenbar überrascht. Wie auf ein Signal traten der Typ mit der Baseballkappe und ein großer dunkelhäutiger Mann zurück, bis sie Schulter an Schulter neben dem Fahrer standen. Der Mann mit dem welligen Haar warf die Bierflasche weg und streckte beide Hände aus, mit den Handtellern nach oben, als wollte er seine Unschuld beteuern.
    »Annie …«, flehte William.
    Sie sah, wie der Dunkelhäutige eine Pistole zog, sie auf den Mann mit dem welligen Haar richtete und abdrückte,
pop-pop-pop. Der Getroffene taumelte zurück, stolperte über die Feuerstelle und stürzte in den Schlamm.
    Annie hielt den Atem an, das Herz schien ihr in die Kehle zu springen. Dann spürte sie einen scharfen Schmerz in ihrem Arm. Für einen Augenblick glaubte sie, von einer verirrten Kugel getroffen worden zu sein, doch es war William, der krampfhaft mit beiden Händen ihren Arm umklammerte. Natürlich hatte auch er gesehen, was passiert war. Es hatte sich ganz anders abgespielt als im Fernsehen oder im Kino, wo ein einziger, ohrenbetäubend lauter Schuss das Opfer nach hinten schleuderte, so dass es unmittelbar darauf tot und blutüberströmt am Boden lag. Hier war es nur ein gedämpftes pop-pop-pop gewesen. Sie konnte nicht glauben, was da gerade passiert war. Hatte ihr die Fantasie einen Streich gespielt?
    »Lass uns verschwinden, Annie!«, bettelte William.
    Halb benommen stolperte sie in Richtung Fluss. Am Ufer schaute sie über die Schulter zurück, weil ihr klar wurde, dass sie vom Weg abgekommen waren und dass es hier nicht weiterging.
    »Nein«, rief sie William zu. »Nicht da lang! Lass uns zum Weg zurückgehen!«
    William wandte sich seiner Schwester zu, von Panik ergriffen, mit weit aufgerissenen Augen und kreidebleich. Annie packte seine
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