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Stumme Zeugen

Titel: Stumme Zeugen
Autoren: authors_sort
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Abenddämmerung beobachtete er häufig Maultierhirsche, die aus dem durch das Tal verlaufenden Fluss tranken.
    Er schnalzte mit den Lippen und trat einen Schritt nach rechts, die Longe locker in der linken Hand führend. Chile reagierte sofort und trabte nach links, im Kreis. In der Rechten hielt er die aufgerollte Laufleine, mit der er der Stute Kommandos gab und sanften Druck ausübte, damit sie in der richtigen Gangart blieb. Manchmal schlug er mit dem Ende des Seils gegen das Hosenbein seiner Jeans, um Chiles Aufmerksamkeit zu wecken, doch meistens musste er es nur leicht anheben, damit sie weitertrabte. Geschlagen hatte er die Stute noch nie mit dem Seil. Während sie im Kreis trabte, hielt er sich auf Höhe ihrer linken Flanke. Er war ganz vernarrt in sein neues Pferd, eine gedrungene, muskulöse, weiß gefesselte kleine Stute mit einem sanften Blick. Leute, die Rennen besuchten und der Meinung waren, Pferde müssten rassig und schlank sein, hätten Chile hässlich gefunden. Er war anderer Meinung. Die Stute war ein klassisches Quarter Horse, ein Cowboypferd.

    Aus dem Augenwinkel sah er, wie der Lexus langsam näher kam. Die Nachmittagssonne funkelte auf der Windschutzscheibe und dem verchromten Kühlergrill, und der Fahrer bremste ab, als er eine Kuh und ein Kalb auf der Weide neben der Straße sah. Es schien, als befürchtete er, die Tiere könnten ihm plötzlich vor den Wagen springen. Vom Highway aus führte nur diese Straße zur Rawlins Ranch, und sie endete vor Jess’ Haus.
    Jess Rawlins war ein großer, hölzerner Mann mit Ecken und Kanten - spitze Ellbogen und Knie, Adlernase, hervorstehende Wangenknochen. Weich an ihm seien nur die Augen und das Herz, hatte seine Frau Karen einst gesagt - übertrieben weich.
    Als der Lexus zwischen dem Haus und der Scheune zum Stehen gekommen war, öffnete sich die Tür auf der Fahrerseite, und Jess schaute zum ersten Mal genauer hin, während die Stute weiter im Kreis trabte. Der Fahrer des Wagens war ein schlanker, gut gebauter Mann mit dichtem blondem Haar und einem borstigen Schnurrbart. Er trug Baumwollhosen und ein purpurfarbenes Polohemd, die wie angegossen saßen. Für Jess sah er wie ein Golfer aus. Doch es war schlimmer. Er war Grundstücks- und Immobilienmakler.
    Jess ließ das zusammengerollte Seil abrupt sinken, und Chile blieb stehen. Wie alle Pferde musste man auch dieses nicht lange überreden, eine Pause zu machen. Trotzdem war er zufrieden, wie die Stute ihn anblickte und auf das nächste Kommando wartete. Manchmal schauten einen Pferde verächtlich an, doch seine Beziehung zu Chile war von gegenseitigem Respekt geprägt. Und sie wird lange dauern.
    Als der Besucher sich dem Round Pen näherte, hörte er
erneut die unverkennbaren Geräusche. Schüsse, aus dem oberen Teil des Tales. Aber in North Idaho, wo jeder eine Waffe besaß, war das nichts Ungewöhnliches.
    Der Mann - er hieß Brian Ballard, Jess kannte sein Konterfei aus den Anzeigen im Immobilienteil der Zeitung - schien die Schüsse nicht gehört zu haben. Er stellte einen in einem eleganten Schuh steckenden Fuß auf die untere Stange des Zauns und hängte seine Arme über die obere. Jess’ Blick glitt zu dem Lexus hinüber, und er sah das Profil der Person auf dem Beifahrersitz. Ja, sie war es.
    »Wie läuft’s denn so, Mr Rawlins?«, fragte Ballard mit gekünstelt wirkender guter Laune. »Wie ich sehe, richten Sie gerade ein Pferd ab?«
    »Bodenarbeit«, antwortete Jess. »Man muss der neuen Generation von Ausbildern, die Bodenarbeit über alles stellen, ein Kompliment machen. Sie wissen, wovon sie reden, und sie haben recht.« Er blickte den Besucher an. »Was wollen Sie?«
    Ballard lächelte, schien sich aber trotzdem unbehaglich zu fühlen. »Mit Pferden kenne ich mich nicht besonders gut aus. Ich bin allergisch gegen sie.«
    »Zu schade.«
    »Ich heiße Brian Ballard, aber vermutlich wissen Sie das.«
    »Allerdings.«
    »Freut mich, Sie endlich kennenzulernen«, sagte Ballard mit einem Nicken. »Hübsch haben Sie’s hier.«
    Jess reagierte nicht.
    »Heute Morgen habe ich Herbert Cooper in der Stadt getroffen. Er sagt, Sie mussten ihm kündigen.«

    Herbert Cooper hatte dreizehn Jahre auf der Ranch gearbeitet, und am Vortag hatte Jess seinem Vorarbeiter sagen müssen, er könne seinen Lohn nicht mehr zahlen, das Einkommen reiche nicht für die Abzahlung der Bankkredite und einen Angestellten. Es war eine der härtesten Entscheidungen gewesen, die er je treffen musste, und die Nacht
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