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Studio 6

Studio 6

Titel: Studio 6
Autoren: Liza Marklund
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Fahrrad. Die Sonne schien klar und scharf über der Landschaft. Sie sah das Chrom des Rades, das an den Schlagbaum gelehnt war, schon von weitem blinken.
    Erst als sie näher gekommen war, bemerkte sie, dass etwas nicht stimmte. Sie nahm den Lenker und hielt das Rad ein wenig von sich fort. Beide Reifen waren in Fetzen geschnitten, ebenso der Sattel. Sie starrte ungläubig darauf, ohne richtig zu begreifen, was sie sah.
    »Und das ist nur der Anfang, du verdammte Hure.«
    Sie schrak zusammen und sah auf. Sven stand ein paar Meter entfernt im Graben. Ihr wurde klar, was jetzt geschehen würde.
    »Ich habe deine ganze verdammte Wohnung kurz und klein geschlagen«, sagte er. »Ich habe all deine verdammten Hurenklamotten zerschnitten.«
    Der Mann schluchzte und wankte, und Annika sah, dass er betrunken war. Sie ging vorsichtig, ohne ihn aus den Augen zu lassen, um den Schlagbaum herum.
    »Du bist wütend, Sven«, beschwichtigte sie. »Du bist betrunken. Du bist nicht du selbst. Überlege dir, was du sagst.«
    Er fing an zu weinen und fuchtelte mit den Armen.
    »Du bist eine HURE, und jetzt wirst du STERBEN!«
    Sie ließ die Tasche fallen und rannte los. Die Sinne schwanden ihr, alles wurde weiß. Sie rannte, raste, ein Ast traf sie ins Gesicht und riss die Wange auf, sie fiel hin, rappelte sich wieder auf, die Geräusche, wo waren nur alle Geräusche, oh, Gott, lauf, lauf, Füße, die auf den Boden donnern, Hilfe, Hilfe, wo ist er, oh, Gott, Hilfe!
    Sie rannte, ohne etwas zu sehen, zwischen die Bäume, über den Weg, in den Graben hinab, tauchte ins Unterholz ein. Da stolperte sie über eine Baumwurzel und fiel der Länge nach auf die Erde, Ameisen krochen ihr übers Gesicht. Sie schloss die Augen und wartete auf den Tod, er kam nicht. Stattdessen die Geräusche, Wind in den Bäumen, ihr eigener Atem, Stille.
    Er ist nicht hinter mir, dachte sie, und:
    Ich muss zu den Häusern kommen. Ich muss Hilfe holen.
    Zögernd und ganz leise stand sie auf, bürstete Dreck und Ameisen ab, horchte, wo war er?
    Nicht hier, im Moment jedenfalls nicht. Sie sah sich um, sie konnte nicht weit vom alten Gustav entfernt sein.
    Vorsichtig, leicht geduckt, lief sie in Richtung Lillsjötorp. Die Pfifferlinge wurden unter ihren Sportschuhen zertreten. Die Baumstämme flogen vorbei, braun, rau, strichen an ihren Händen entlang, am verlassenen Sägewerk sprang sie über einen Bach.
    Da, sie konnte die rote Farbe durch die Bäume schimmern sehen, der Hof des alten Gustav. Sie nahm noch mal alle Kraft zusammen und lief, so schnell sie konnte, zum Haus.
    »Gustav!«, schrie sie. »Gustav, bist du zu Hause?« Sie rannte zur Veranda, rüttelte an der Tür, verschlossen. Sie sah sich um, da hinten, der Holzschuppen, in dem der alte Mann sich fast immer aufhielt, und dort stand auch jemand, aber es war nicht Gustav.
    »Ich wusste, dass du herkommen würdest, du miese Hure!«
    Sven stürzte auf sie zu, er hielt etwas in der Hand.
    Sie sprang über das Geländer der Veranda und landete in Gustavs Rosenbeet. Die Dornen und der süße Duft bohrten sich in ihre Nase.
    »Annika, ich will doch nur mit dir reden. Bleib stehen!«
    Sie stolperte in den Wald, wieder hinunter in die Senke, über den Bach, um den Sumpf herum, das Keuchen hinter ihr hörte nicht auf. Das Trampeln der Füße dröhnte im Moos, sie flog über Äste und Steine, Tunnelblick, Atemlosigkeit, die Umgebung nur vorbeitanzende Fragmente.
    Ich renne, dachte sie, ich bin noch nicht tot. Ich renne, ich lebe, es ist noch nicht vorbei, ich habe eine Chance.
    Rennen ist nicht das Problem, rennen ist die Lösung, ich kann gut rennen.
    Sie rief sich die Einstellung bei einer knallharten Trainingseinheit ins Bewusstsein, zwang das Adrenalin zurück, konzentrierte sich auf die Atmung und die Aufnahme von Sauerstoff, atmen, atmen, das Gesichtsfeld kehrte zurück, das Pochen im Kopf nahm ab, Gedanken nahmen Form an.
    Er läuft schneller als ich, dachte sie, aber er ist betrunken, und ich kenne den Wald besser. Auf ebenem Untergrund läuft er schneller als ich, ich muss mich im Wald halten.
    Sofort wandte sie sich nach Norden und ließ den rich tungsweisenden Weg hinter sich. Da oben gab es den Gorgsjö und den Holmsjö, wenn sie um die herumlief, konnte sie sich östlich halten, auf den Sörmlandsleden, einen Fernwanderweg, treffen und über die Fabrik ins Dorf hinunterlaufen.
    Ihre Beine wurden langsam schwer, sie hatte erst kurz zuvor ein halbes Kilo Pfifferlinge gegessen. Annika zwang sie, im Takt zu
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