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Stromschnellen: Roman (German Edition)

Stromschnellen: Roman (German Edition)

Titel: Stromschnellen: Roman (German Edition)
Autoren: Bonnie Jo Campbell
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Hirsch, wachte aber nicht auf. Brian und Paul brüllten vor Lachen. Als der Mann mit der flachen Hand über die Lende des Tieres strich, musste auch Margo lächeln.
    »Lass uns fahren«, drängte Paul schließlich und sah zwischen Margo und Brian hin und her. »Falls du und dieser Knastköder euch voneinander losreißen könnt.«
    »Von einem Mädchen, das nicht redet, krieg ich einfach nicht genug«, sagte Brian zu Paul und ließ den Bootsmotor aufheulen. »Auf Wiedersehen, Maggie.«
    Die Männer fuhren flussaufwärts davon. Margo sah, wie das Boot immer kleiner wurde und schließlich hinter einer Biegung verschwand. Drüben auf der anderen Seite des Flusses ging gerade Junior Murray die Holzstufen vor der Küchentür des großen Hauses hoch. Offensichtlich war er zum Fest von der Militärakademie nach Hause gekommen. Joanna war draußen. Sie stellte den Topf ab, den sie in den Händen gehalten hatte, schloss Junior in die Arme und drückte ihn lange, dann schob sie ihn die Stufen hinauf und ins Haus.
    Als Margo es gegen fünf Uhr abends nicht länger zu Hause aushielt, stieg sie in ihr Boot. Sie legte das Gewehr auf die Rückbank und ließ sich ein Stück flussabwärts treiben, damit niemand sie kommen sah. Dann ruderte sie auf der anderen Seite dicht am Ufer wieder stromaufwärts und machte The River Rose an der Weide in der Nähe des weiß getünchten Schuppens fest, wo der ganze Ärger angefangen hatte. Um sich aufzuwärmen, stampfte sie mit den Füßen auf dem gefrorenen Gras herum. Ein paarmal zielte sie mit dem Gewehr auf Reifflecken auf dem Rasen, als hätte sie dort ein Kaninchen gesichtet. Als sie am Schuppen auf dem Boden ein Eichhörnchen entdeckte, schloss sie die Augen, hob das Gewehr an Schulter und Wange, zielte blind in die Blickrichtung und öffnete die Augen dann wieder. Sie hatte das Tier fast perfekt anvisiert. Das Eichhörnchen hoppelte davon. Aus der Hufeisengrube drangen ein Klirren, Rufe und das Gejaule von Hank Williams Senior an ihr Ohr. Als nächster Song erklang Johnny Cashs »Folsom Prison Blues«. Margo fragte sich, was passieren würde, wenn sie einfach hinging, sich eine Dose Limo und ein Stück Apfelkuchen vom Tisch nahm und so tat, als wäre alles in Ordnung und als würde sie wieder zur Familie gehören.
    Zu Hause am anderen Flussufer rührte sich etwas. Der blaue Ford bog in die Zufahrt ein – Stunden vor Cranes erwarteter Rückkehr. Ihr Vater stieg aus, ging ins Haus, kam sofort wieder heraus und blickte über den Fluss. Margo war klar, dass er ihr Boot sehen würde, das auf der falschen Flussseite lag, deshalb rannte sie hinunter ans Wasser, um ihm zuzuwinken und klarzumachen, dass sie nicht auf der Party war. Doch als sie die Stelle erreichte, an der er sie hätte sehen können, saß er schon wieder in seinem Pick-up. Seine Reifen schleuderten den Schlamm unter der Kruste des gefrorenen Bodens hoch. Margo war heilfroh, dass Cal nirgends zu sehen war. Aber in diesem Augenblick tauchte er, wie von ihren Gedanken heraufbeschworen, auf dem Pfad am Fluss auf und kam auf sie zu. Er wirkte betrunken. Vielleicht hatte Crane ihn gesehen, vielleicht kam er deshalb angerast, statt einfach nur etwas über den Fluss zu rufen. Lautlos wich Margo zurück und hangelte sich hinauf in den Apfelbaum, auf die hölzerne Plattform, die Großvater und Junior vor ein paar Jahren gezimmert hatten. Sie kniete sich hin, spitzte die Ohren und beobachtete Cal. Nur zehn Schritt von ihr entfernt blieb er am Schuppen stehen, nahe genug, um ihn blinzeln zu sehen, nahe genug, um festzustellen, dass an seinem karierten Hemd unter der offenen Carhartt-Jacke ein Knopf fehlte. Sie fragte sich, ob im Schuppen ein Mädchen wartete, aber durch die schmutzige Fensterscheibe erkannte sie lediglich den Kadaver eines Hirschs, der von der Decke hing. Schwer zu sagen, aber er wirkte kleiner als alle, die sie dieses Jahr geschossen hatte.
    Cal stand mit dem Gesicht zum Fluss. Als er den Plastikbecher mit seinem Bier auf das Fenstersims neben der Tür stellte, sah Margo ihn vor der weißen Schuppenwand im Profil. Flussabwärts hörte sie Cranes scheppernden Auspuff auf der Brücke, doch Cal achtete nicht auf das Geräusch, sondern zündete sich eine Zigarette an. Margo beobachtete, wie er den Rauch inhalierte und wie sich seine Brust hob und senkte, als er kurz darauf eine blaue Wolke ausstieß. Es war kälter als letztes Jahr zu Thanksgiving. Die Plattform war gerade so hoch, dass Margo das Dach von Cranes Ford sehen
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