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Stromschnellen: Roman (German Edition)

Stromschnellen: Roman (German Edition)

Titel: Stromschnellen: Roman (German Edition)
Autoren: Bonnie Jo Campbell
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hörte, wie ihm Worte entströmten, und doch war sie nicht sicher, ob er sie tatsächlich aussprach. Sein Gesicht lief violett an.
    »Lass mich untergehen«, flüsterte Smoke noch einmal, packte ihre freie Hand und umklammerte sie grimmig. Das Wasser perlte von seinem vollen silbergrauen Haar ab, das in der Morgenröte einen rosafarbenen Stich hatte. Aus seinen Lippen war die Farbe gewichen. Da bemerkte Margo einen um seine Schulter geschlungenen Lederriemen. Mit der Hand, mit der sie Smoke über Wasser hielt, tastete sie am Riemen entlang und stellte fest, dass an ihm der Beutel mit den bleiernen Drucklettern hing, der immer bei Smoke auf dem Küchentisch gelegen hatte. Sie versuchte ihn abzureißen, aber mit einer Hand schaffte sie es nicht, und mit der anderen hielt Smoke sie fest.
    Plötzlich löste sich der Rollstuhl aus dem Astgewirr und rutschte ein kleines Stück unter den Steg. Margo sah, dass einer von Smokes Füßen im Rollstuhl verklemmt war. Wenn sie Smoke losließ und ihre Hand aus seinem Griff befreite, überlegte sie, könnte sie ihn vielleicht freibekommen, bevor er ertrank. Falls er noch lebte, könnte sie ihn vielleicht auf die Ufermauer ziehen. Vielleicht könnte sie ihn sogar die Böschung hinaufschleppen. Falls er noch lebte, wenn der Rettungsdienst eintraf, würde er im Krankenhaus oder Pflegeheim vielleicht noch eine Stunde, einen Tag oder eine Woche überleben. Smokes Stirn war schmerzverzerrt.
    Margo küsste ihn auf die Wange und gab ihn frei. Smoke glitt unter Wasser. Sein Husten verstummte, die Krämpfe in seiner Brust verebbten und hörten auf. Margo spürte, wie seine Anspannung und seine Schmerzen nachließen und er langsam den Griff lockerte.
    Sie wollte seinen Körper aus dem Fluss ziehen und an Land bringen, aber sie musste aus dem eisigen Wasser heraus. Also kletterte sie auf die Ufermauer. Triefend und zähneklappernd blieb sie darauf stehen. Der Schneesturm hatte ihre Fußabdrücke und die Reifenspuren des Rollstuhls längst verweht. Im Nu gefroren ihre durchnässten Hosenbeine und ihr Parka, und der Schnee klebte an ihr. Das Wasser perlte zwar an den eingefetteten Lederstiefeln ab, war zwischen den Schnürsenkeln aber bis zu den Strümpfen durchgesickert, sodass sich ihre Füße wie Eisklumpen anfühlten. Als sie zum Haus hochblickte, sah sie im Schneetreiben einen hageren Mann mit Filzhut über die Terrasse gehen. Gleich darauf starrte er mit vor der Brust verschränkten Armen zu ihr hinunter. Margo sog die Luft so scharf ein, dass es wehtat.
    Sie zog ihre Büchse heraus, hängte sie sich, ohne den Schnee aus dem Gewehrlauf zu klopfen, über die Schulter und stieg die Stufen hoch. Oben erwartete sie Fishbone. Sie wollte etwas sagen, ließ es angesichts seiner versteinerten Miene jedoch bleiben. Nightmares Gebell machte sie ganz verrückt. Sie ging auf die Terrasse, stampfte den Schnee ab und betrat das Haus. Aufgeregt, aber still heftete sich Nightmare an ihre Fersen. Sie holte in der Küche ihren Stoffbeutel, im Bad das Shampoo, aus der Kommode in Smokes Schlafzimmer zwei Paar frische Socken, aus dem Schrank ein Hemd mit dem Namenszug SMOKE und aus dem Kühlschrank den Rest Erdbeermarmelade. Dann nahm sie die Remington aus dem Gewehrständer und stopfte zwei Schachteln Patronen in ihre nassen Taschen, in denen sie schwer wie Anker wogen. Bevor sie das Haus wieder verließ, kauerte sie nieder, schlang die Arme um den großen Hund und kraulte ihn hinter den Ohren und am Hals. »Auf Wiedersehen, Nightmare. Ich wünschte, ich könnte dich mitnehmen. Ich würde mich so gern um dich kümmern.«
    Dann ging sie hinaus. Im Schneetreiben erkannte sie unten am Wasser Fishbones Gestalt. Sie umklammerte das Gewehr mit der bloßen Hand – ihre klatschnassen Handschuhe steckten unter den Patronen in ihren Taschen – und folgte steifbeinig dem Weg flussabwärts zur Glutton. Noch lange hörte sie Nightmare bellen. Sie fragte sich, ob die Polizei ihre Spuren entdecken würde. Oder würde Smoke recht behalten, und der Tod eines kranken alten Mannes interessierte niemanden so sehr, dass man deswegen Ermittlungen anstellte?
    Margo schaffte es, durch den Maschendraht zu schlüpfen, ohne mit dem Parka hängen zu bleiben. Mit tauben Füßen schleppte sie sich über die Weide, auf der jetzt natürlich kein Vieh stand. Kurz vor dem hinteren Ende stolperte sie im Schnee über einen gefrorenen Kuhfladen und fiel auf die Knie. Sie kroch eine Weile, musste jedoch eine Pause einlegen, bevor sie
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