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Straße der Diebe

Straße der Diebe

Titel: Straße der Diebe
Autoren: Mathias Enard
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und es gab immer Fälle, die dringender waren als ihrer.
    Núria war nicht da, wir waren nur zu zweit in ihrem Zimmer; sie saß im Besuchersessel und ich neben ihr auf dem Boden. Ich zögerte lange, dann sagte ich zu ihr, weißt du, ich frage mich, ob Bassam nicht etwas vorhat.
    Sie beugte sich zu mir herunter.
    »Du meinst, etwas Gefährliches?«
    »Ja, etwas wie Marrakesch oder Tanger. Aber ich bin mir nicht sicher. Es könnte einfach sein.«
    Ich hatte wieder Bassams Blick vor Augen, der so leer, so verloren, so gepeinigt war.
    Judit seufzte, einen Augenblick schwiegen wir zusammen.
    »Und was willst du tun?«
    »Ich weiß nicht.«
    Sie beugte sich zu mir, um mir die Stirn zu streicheln, und dann setzte sie sich neben mich auf den Boden, den Rücken gegen das Bett gelehnt, und umarmte mich fest, und wir hielten uns lange in den Armen.
    »Mach dir keine Sorgen, ich weiß, du wirst die richtige Entscheidung treffen.«
    Schließlich musste sie mich freundlich vor die Tür setzen, damit ich mich wieder auf den Weg in die Straße der Diebe machte und die Horde der intubierten Raucher auf dem Vorplatz des Krankenhauses hinter mir ließ.

Ob es seine Verlassenheit oder die Gewalt war, spielt keine Rolle. Bassam drehte sich im Kreis, er wurde von einer Seelenlepra aufgefressen, einer Krankheit der Hoffnungslosigkeit, er war im Stich gelassen worden – was mochte er wohl dort im Orient gemacht oder gesehen haben, was war passiert, welcher Schrecken hatte ihn zerstört, ich weiß es nicht; waren es die Säbelhiebe in Tanger, die Toten von Marrakesch, Kämpfe, Massenhinrichtungen im afghanischen Untergrund oder nichts von alldem, nur Einsamkeit und das Schweigen Gottes, diese Abwesenheit des Herrn, die die Hunde verrückt macht – ich hatte das Gefühl, dass er mich rief, dass er etwas von mir wollte, dass er mich mit seinem Blick suchte, als wollte er, dass ich ihn heilte, dass man den Weltuntergang aufhalten musste, dass man das Auflodern der Flammen verhindern musste, das verheerende Feuer, und Bassam war einer dieser apokalyptischen Vögel, die sich im Kreis drehen, wie Cruz den ganzen Tag im Internet Videos über den gewaltsamen Tod ansah, und ich hatte nichts, dessen ich sicher war, nichts außer diesen Hilferuf, diese Kraft der Gewalt – diese Frage, die Cruz stellte, als er vor mir sein Gift schluckte, entschlossen, sein Leben auf die schrecklichste aller Arten zu beenden, glaubte ich in Bassams Blick wiederzusehen. Diesen Willen, Schluss zu machen. Wenn die Flammen zu sehr auflodern, zu bedrängend werden, muss man manchmal handeln; ich habe Bassam nach dem Gebet von der Moschee zurückkommen sehen, er sagte nur Guten Abend, Lakhdar, mein Bruder, warf sich auf das Sofa – Mounir schloss sich in seinem Zimmer ein; ich tauschte ein paar Banalitäten mit Bassam aus, bevor ich mich in meine Kammer flüchtete und stundenlang dem Theater auf der Straße der Diebe zuschaute, all den Menschen, die in der Nacht umherwandelten.

Seine Augen waren geschlossen.
    Ich streichelte seinen rauen Schädel, ich dachte an Tanger, an die Meerenge, an die »Verbreitung des koranischen Gedankenguts«, an das Café Hafa , an die Mädchen, an das Meer, ich sah das triefende Tanger bei Regen, Tanger im Herbst, im Frühling; ich sah uns gemeinsam durch die Stadt laufen von der Steilküste bis zum Strand; ich eilte durch unsere Kindheit, unsere Jugend, wir haben nicht sehr lange gelebt.
    Zwei Stunden später kam Mounir aus seinem Zimmer, er sah den Leichnam, er sah sein blutiges Messer auf dem Boden, er war entsetzt, schrie etwas, aber ich hörte ihn nicht; ich sah ihn panisch gestikulieren; er packte in höchster Eile seine Sachen, ich sah seine Lippen sich bewegen, er sagte etwas zu mir, was ich nicht verstand, und nahm Reißaus.
    Ich schlief ein, auf dem Sofa, neben der Leiche.
    Am Nachmittag rief ich mit meinem Handy die Polizei an. Fast lächelnd gab ich ihnen die Adresse, Straße der Diebe Nr. 13, vierter Stock links.
    Am Abend, im Kommissariat, erfuhr ich von ihrer Mutter, dass Judit operiert worden war, dass alles gut gelaufen war. Das konnte kein Zufall sein.
    Zwei oder drei Tage später kam Núria mich in der Haft besuchen.
    Sie versicherte mir, Judit würde mich besuchen, sobald sie aus dem Krankenhaus entlassen würde.
    Man verhörte mich; meine Lebensfäden wurden einer nach dem anderen auf endlosen Seiten miteinander verwoben.
    Der Psychiater erklärte mich für zurechnungsfähig.
    Und einige Monate später, als der
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