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Stoerfall in Reaktor 1

Stoerfall in Reaktor 1

Titel: Stoerfall in Reaktor 1
Autoren: Wolfram Hänel
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als nur ein paar Frühstücksbuffets sind in den Pensionen unbenutzt wieder abgeräumt worden. Und den Sekt muss der Bürgermeister nun selbst trinken oder für eine neue Gelegenheit aufheben. Die Touristen haben buchstäblich die Flucht ergriffen.
    Trotzdem ist sich Lukas gerade nicht mehr so sicher, was ihre Aktion gebracht hat. Oder ob sie überhaupt was gebracht hat. Außer dem Chaos letzte Nacht und der allgemeinen Empörung, die jetzt herrscht.
    Die Kommentare heute Morgen, als er beim Bäcker frische Brötchen geholt hat, waren eindeutig: Irgendwelche Chaoten, die sich einen dummen Witz erlaubt haben. Und die umgehend eingesperrt werden sollten. So was tut man doch nicht! Das heißt ja geradezu, das Unglück heraufbeschwören! Aber wenn die erwischt werden, dann können sie sich auf was gefasst machen! Noch haben wir hier Gesetze, die solchem Unfug einen Riegel vorschieben. Und zwar ein für alle Mal.
    Es gab niemanden, der vielleicht einfach mal gesagt hätte: Verdammt, Leute, kapiert ihr es eigentlich wirklich nicht? Macht euch doch nichts vor, nur weil plötzlich der Ausstieg aus der Atomkraft beschlossene Sache zu sein scheint, ist es noch lange nicht vorbei. Das, was da letzte Nacht gelaufen ist, hätte genauso gut der Ernstfall sein können! Und dann würden wir hier nicht mehr stehen und jammern, dass wir unsere Brötchen nicht verkauft kriegen, weil sich die Touristen vom Acker gemacht haben. Dann wären wir wirklich am Arsch! Aber nein, kein Wort davon. Null. Niente. Nada.
    Mit Jannik hat Lukas noch nicht wieder gesprochen. Auch nicht mit Alex. Den Ball erst mal schön flach halten, haben sie vereinbart, es ist besser, wenn sie nicht zusammen gesehen werden. Heute Abend in der Disco ist immer noch Zeit genug, um ganz zufällig an der Theke mal ein paar Worte miteinander zu wechseln. Wobei er noch nicht weiß, ob er überhaupt hingeht … Karlotta hat einen neuen Schub gehabt. Seine kleine Schwester, die an Leukämie erkrankt ist. Heute Vormittag war sie so schwach, dass sie nicht aufstehen wollte und er ihren Kopf stützen musste, um ihr beim Trinken zu helfen. Er hat dann noch an ihrem Bett gesessen und ihr eine Geschichte vorgelesen. Bis sie wieder eingeschlafen ist. Ihr Gesicht war bleich, wächsern. Mit tiefen schwarzen Ringen unter den Augen …
    Lukas merkt, wie ihm die Tränen in die Augen schießen. Er lässt sich rücklings aufs Bett fallen und tastet blind mit der Hand nach dem CD -Player. Bevor er die Lautstärke hochdreht, zieht er sich den Kopfhörer über die Ohren. Goldfrapp . Hannah hat ihm die CD geliehen. Hannah, die echt cool ist, auch ziemlich schräg drauf, aber immer gut für eine Antwort, mit der keiner rechnet. Weder die Lehrer noch einer von ihnen. Dass sie so was wie Goldfrapp hört, hätte Lukas nicht im Traum erwartet. Passt irgendwie nicht zu ihr. Ziemlich kitschig, viele Geigen und so was. Aber eine Melodie, die sich für immer im Kopf festsetzt. Und eine Frauenstimme, die einem echt die Schuhe auszieht: »She’s like a little bird, she flies from a to b, to see what she can see, she’s far away from me …« Jetzt heult er wirklich. Aber es ist egal. Er lässt die Tränen einfach laufen. Es sieht ihn ja keiner …
    Er weiß nicht mehr, wann er zum ersten Mal angefangen hat, über das verdammte AKW nachzudenken. Als immer mehr Kleinkinder in Wendburg krank wurden? Als dann plötzlich auch bei seiner kleinen Schwester Leukämie diagnostiziert wurde und er miterleben musste, wie sehr ihr die erste Behandlung im Krankenhaus zu schaffen machte? Oder vielleicht als sein Vater und seine Mutter nur noch abwechselnd geheult und geschrien haben und seine Mutter dann kurze Zeit später mit Karlotta in die Gästewohnung in ihrem Haus umgezogen ist und gar nicht mehr mit seinem Vater reden wollte? Oder als sie auch mit ihm nicht mehr reden wollte, weil er sein Schulbetriebspraktikum im Kernkraftwerk gemacht hat? »Im Werk«, wie die Leute hier nur sagen, als wollten sie unter allen Umständen vermeiden, die Worte »Atom« oder »Kernkraft« laut auszusprechen.
    Wobei dieses »im Werk« Lukas manchmal vorkommt, als wäre es fast liebevoll gemeint. Nein, liebevoll ist nicht das richtige Wort, überlegt er, aber zumindest spielt so etwas wie Stolz mit hinein. Stolz auf »ihr« Werk. Das ihnen allen gut bezahlte Arbeit verschafft. Das ihnen ermöglicht, ein eigenes Haus zu haben, mit Sauna im Keller und Pool im Garten und mindestens zwei Autos vor der Tür. Das ihnen gerade erst
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