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Stiller Zorn: Roman (German Edition)

Stiller Zorn: Roman (German Edition)

Titel: Stiller Zorn: Roman (German Edition)
Autoren: James Sallis
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umtat.
    Es war wunderbar.
    Ich ging im Dunkeln rüber zur Corondolet Street und nahm die nächste Straßenbahn, die anfangs fast leer war, sich aber rasch füllte, als sie um den Robert E. Lee Circle in Richtung Uptown fuhr. Hinten saß eine junge Frau, die unverwandt aus dem Fenster starrte und vor sich hin weinte. Der Fahrer beobachtete sie fortwährend im Rückspiegel.
    Das Haus wirkte noch verlassener als bei meinem Aufbruch. Ich mixte mir einen Drink und saß in der Dunkelheit da. Mein Cajun hatte dem alten Mann in der Bar mitgeteilt, dass sein Sohn tot war, dass sein Tod ebenso unnötig wie blöde war, und mir wurde mehr denn je bewusst, wie sehr ich da über mein eigenes Leben schrieb, dass im Grunde genommen ich es war, der die Flasche bestellte, sich damit abfand, dass ich David nie wiedersehen würde. Ich halte nicht viel von Zauberkram oder Esoterik, aber als ich an diesem Abend in der Dunkelheit dasaß, umgeben vom Gingeruch und dem Säuseln des Windes, wusste ich Bescheid. Und ich habe recht gehabt.

7
    Ich habe diesen Moment deutlich vor Augen, aber umso verschwommener sind die Tage danach.
    Ich muss alles weggesoffen haben, was im Hause war, und dann losgezogen sein und Nachschub besorgt haben. Ich kann mich dunkel erinnern, dass ich mit Papiertüten bepackt die St. Charles Avenue entlangmarschiert und an irgendeiner Ecke gestolpert bin, dass aber wie durch ein Wunder nur eine Flasche zu Bruch ging. Dass ich irgendwann in einem K & B einen Kassenbon abgezeichnet habe. Barfuß auf dem heißen Gehsteig zurückgegangen bin, versucht habe, nach Hause zu finden, und dass ich tags darauf aufgewacht bin und meine Fußsohlen voller Brandblasen waren.
    Ein paar helle Momente, alles andere ist weg.
    Irgendwann war Walsh da (zumindest bildete ich mir das ein), dann Verne, kurz darauf zwei Indianer mit einem Zugschlitten. Ich stieg auf und flog über all die Menschenmassen dahin, über Janie, David, Robert Johnson, meinen alten Herrn, Verne, Jules Verne, Ma Rainey, Walsh, George Washington Carver, die ganze wilde Truppe.
    Jede Menge alte Fernsehsendungen. Heiteres Beruferaten. Familienserien.
    Und wieder wachte ich eines Morgens mit schmerzendem Schädel und unglaublich durstig auf, doch nirgendwo rollte jemand die R .
    Diesmal dauerte es nicht lang, etwa eine Woche, dann wurde ich wieder auf die Menschheit losgelassen. Ich hing zu Hause rum, trank unzählige Kannen Kaffee und las allerlei Sachen, Balzac und Dickens zum Beispiel. Sprang drei Tage die Woche für Jack Palangian ein und hatte ein paar richtig gute Studenten, ging ein paarmal mit einer jungen Lehrkraft aus dem Fachbereich Französisch aus. Schrieb ein paar schwachsinnige Beiträge für irgendwelche Illustrierten und eine Serie über die Cajun-Kultur für die Times-Picayune .
    Eines Abends schaute Verne nach der Arbeit vorbei, und wir kochten uns was, setzten uns raus auf den Balkon und redeten über alles, was mal gewesen war. »In einer Hinsicht sind wir uns ziemlich ähnlich, Lew«, sagte sie. »Keiner von uns wird jemals was Festes kriegen, jemanden, der’s mit uns aushält, so viel Verständnis hat.« Doch sie hatte unrecht.
    Ich war seit ein paar Wochen aus dem Krankenhaus raus, wog fünfzehn Kilo weniger und fühlte mich alles andere als fit, als ich die Korrekturfahnen von meinem letzten Roman erhielt, Der alte Mann hieß er, und als ich eines Morgens den Schluss las ( Ich stieß die Tür auf und sah ihn vornübergebeugt an dem zerschrammten Mahagonitresen hocken ), stiegen mir die Tränen in die Augen. Ich war auch gar nicht überrascht, als das Buch ein paar Monate später ein Riesenerfolg wurde.
    Und jetzt muss ich vermutlich irgendwie zum Schluss kommen.
    Wenn ich bloß wüsste, wie ich das anstellen soll.
    Ich wohne nach wie vor in dem Haus, in dem ich einst mit Verne gelebt habe, und manchmal kommt sie abends noch vorbei. Ich spreche oft mit Vicky, Walsh, Cherie und all den andern. Höre all die Stimmen, die mir in den Sinn kommen, ob echt, erinnert oder eingebildet. Manchmal reut es mich, und mitunter bedaure ich auch das eine oder andere, aber nicht mehr so oft wie früher, und ich lasse mich auch nicht mehr so oft drauf ein.
    Und nun das nächste Buch. Aber diesmal nicht über meinen Cajun. Diesmal ging’s um jemand, den ich Lew Griffin nenne, jemand, den ich einerseits bestens, andererseits überhaupt nicht kenne. Jetzt muss ich das alles bloß noch schreiben. Ich ging wieder ins Haus und schrieb. Es war Mitternacht, und der Regen
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