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Stiller Zorn: Roman (German Edition)

Stiller Zorn: Roman (German Edition)

Titel: Stiller Zorn: Roman (German Edition)
Autoren: James Sallis
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Ich hol immer noch seine Post aus dem Briefkasten. Die Miete fürs Apartment is bis November bezahlt.«
    »Wohnt dort niemand?«
    »Nein, Sir.«
    »Sind Sie oben gewesen und haben persönlich nachgesehen?«
    »Vor einer Woche. Dafür werd ich unter anderem bezahlt.«
    »Die Post haben Sie bei sich?«
    »Ja, is alles hier, in einem Karton. Einen Moment mal … Okay.«
    »Sagen Sie mir, was da ist.«
    »Der übliche Müll – Bankauszüge, Mastercard-Abrechnungen, von ein paar anderen Kreditkarten ebenfalls, einige Illustrierte, pfundweise Postwurfsendungen und Reklame. Der Spielplan von einem Kino, in dem ›ausländische und künstlerisch wertvolle‹ Filme laufen. Ein Bücherkatalog aus Frankreich.«
    »Nichts Persönliches.«
    »Nein, Sir, eigentlich nicht.«
    »Vielen Dank, Mister Jones.«
    »Gern geschehn, Sir. Wenn ich irgendwas für Sie tun kann, egal was, brauchen Sie bloß anzurufen. Sie wissen Bescheid?«
    »Ich weiß Bescheid. Mitbürger wie Sie machen uns die Arbeit leichter.«
    »Is doch nix dabei.«
    Er hatte recht. Es war überhaupt nichts dabei.
    (– Ich erinnere dich an den sonderbaren Vorfall mit dem Hund in der Nacht.
    – Aber der Hund hat doch in der Nacht gar nichts gemacht.
    – Das ist ja das Sonderbare,
    wie es mein Kollege Mr Holmes einst ausgedrückt hat.)
    Ich trank Kaffee, bis die Kanne leer war, las noch ein bisschen Tschechow, mixte mir einen Krug Martini und wählte die Überseevermittlung. Zwanzig Minuten später hatte ich Vicky an der Strippe.
    »Ist das schön, dich mal wieder zu hören. Dir geht’s gut, hoffe ich.«
    » Ça va bien. Et toi? «
    »Wunderbar, jetzt vor allem, wo ich nach all den Jahren wieder mit dir reden kann.«
    »Die gehen schnell vorbei, V.«
    »In der Tat, Lewis. Und für die Menschen, die wir lieben und an denen wir hängen, gilt genau das Gleiche.«
    »Vieles hat sich verändert.«
    »Und vieles nicht.«
    »Wohl wahr. Wie geht’s Jean-Luc?«
    »Großartig. Übersetzt jetzt hauptsächlich Computerbücher. Langweilig, sagt er, aber ziemlich einfach nach all den literarischen Romanen, und natürlich viel, viel besser bezahlt.«
    »Und der eigentliche Herr im Haus?«
    Sie lachte. »Gestern musste er im Englischunterricht einen Aufsatz schreiben: Was möchte ich werden, wenn ich mal groß bin. Louis hat uns allen versicher t , in ausgezeichnetem Englisch übrigens, dass er vor allem Amerikaner werden will, wenn er mal groß ist.«
    »In diesem Fall sollte er lieber auf sein ausgezeichnetes Englisch aufpassen.«
    »Genau.«
    »Dann geht er also schon zur Schule.«
    »Auch wenn man’s kaum glauben mag. Er ist sechs, Lew.«
    »Wirklich … Hör mal, ich rufe an, weil ich dich um einen Gefallen bitten möchte.«
    »Jederzeit. Ich wüsste nichts, was ich lieber täte.«
    »Mein Sohn David ist diesen Sommer in den Semesterferien in Frankreich gewesen. Er hat sich ziemlich regelmäßig bei uns gemeldet, bei seiner Mutter und mir, meine ich. Dann war mit einem Mal Funkstille – kein Brief, keine Karte, kein gar nichts. Er hat sich an der Universität nicht blicken lassen, obwohl das Semester wieder angefangen hat. Wir wissen nicht mal, ob er wieder in den Staaten ist.«
    »Und ich soll mich hier drüben erkundigen?«
    »Richtig. Alles, was du rausfinden kannst.«
    »Ich brauche Absenderadressen, Namen von Freunden, Kontakte zu Universitäten. Was noch? Kreditkartenabrechnungen von Fluggesellschaften?«
    Daran hatte ich nicht gedacht. Ich gab ihr alles durch, was ich hatte, sagte, der Rest käme in Kürze telegrafisch, einschließlich der Passnummer. Ich dankte ihr.
    »Du brauchst dich nicht zu bedanken, Lew. Wenn Louis groß ist und ein Amerikaner wird, kannst du ihn für mich aufspüren, ihm sagen, dass er seiner armen Mutter schreiben soll.«
    » Je te manque, V. «
    » Et moi aussi … Das kann eine Weile dauern, Lew. Hier in Frankreich ist auch nicht mehr alles so, wie es mal war.«
    »Ist das noch irgendwo der Fall?«
    » Au revoir, mon cher .«
    » Au revoir .«
    Ich goss mir ein weiteres Glas Martini ein und ging raus auf den Balkon. In New Orleans liebt man Balkons – Balkons und abgeschiedene Innenhöfe, wo man (zumindest theoretisch) fernab von dem Gewusel da unten und rundum geruhsam vor sich hin leben kann. Auf der anderen Straßenseite kam eine Horde Schulmädchen aus St. Elizabeth’s, so als wüssten sie über alles Bescheid, als würden durch ihre Lehrbücher alle Zweifel ausgeräumt, im Unterricht alle Fragen beantwortet – lauter stramme junge
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