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Stiller Zorn: Roman (German Edition)

Stiller Zorn: Roman (German Edition)

Titel: Stiller Zorn: Roman (German Edition)
Autoren: James Sallis
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Beine unter karierten Uniformröcken.

5
    Mein Cajun, gepriesen sei sein altes Jägerherz, pirschte sich immer näher an die Wahrheit ran, tastete sich drauf zu wie ein Künstler, improvisierte wie ein Jazzmusiker oder ein Blueser, ein Dichter, und ich musste daran denken, was Gide über Detektivgeschichten gesagt hatte, in denen »jede Figur alle anderen zu täuschen versucht, und in denen die Wahrheit allmählich durch das Gespinst der Täuschung zum Vorschein kommt«. Ein paar Kapitel vorher hatte ich ein paar Passagen aus Evangeline reingepackt, natürlich ein bisschen knackiger aufbereitet.
    Aber irgendwie passierte was Komisches. Je weiter ich mit der Boudleaux-Geschichte kam, desto weniger Fantasie musste ich aufwenden – ich griff stattdessen auf Erfahrung zurück, auf Leute, die ich mal gekannt hatte, bezog mein eigenes Leben immer mehr ein. Jetzt, auf Seite siebenundneunzig, tauchte ohne jede Vorwarnung eine rothaarige Krankenschwester auf, die Boudleaux’ Bettdecke zurechtzupfte (er hatte einen Verkehrsunfall) und die R rollte. Vermutlich war auch Verne bald mit von der Partie, vielleicht sogar mit ihrem letzten Abgang.
    Ich schrieb bis zwei oder drei Uhr morgens, baute die Schwester immer mehr in die Handlung ein und fiel schließlich am Fußboden in Tiefschlaf, als ich mich hinlegte und ein paar Minuten Pause machen wollte.
    Irgendwann frühmorgens (ich hörte die Vögel und konnte im Dämmerlicht das Telefon auf dem Schreibtisch erkennen) schellte es plötzlich los.
    »Lew, ich weiß, dass es da drüben ziemlich früh ist …«
    »Ich war schon so gut wie auf. Hab’s mir jedenfalls ernsthaft überlegt.«
    » Voilà . Folgendermaßen sieht’s aus. Ich bin bei der Pension gewesen, in der David gewohnt hat, und er ist dort, wie geplant, Ende August ausgezogen, irgendwann um den fünfundzwanzigsten, und hat seine New Yorker Adresse hinterlassen und sich sämtliche Post dorthin nachsenden lassen. Jean-Luc hat die Reisebüros angeklingelt und bestätigt bekommen, dass unter dem Namen David Griffin ein Direktflug von Paris nach New York gebucht worden ist, Abflug am sechsundzwanzigsten, abgerechnet über Davids American-Airlines-Karte.«
    »Nicht schlecht für Amateure.«
    »Ein Amateur ist in der ursprünglichen Bedeutung des Wortes jemand, der Anteil nimmt, der liebt, Lew. Kann ich sonst noch irgendetwas für dich tun?«
    »Im Augenblick nicht, aber ich kann euch beiden gar nicht sagen, wie dankbar ich euch bin.«
    »Das brauchst du auch nicht. Ecris-moi, ou appele-moi encore! «
    » Bientôt, ma chère.«
    Dann war es vorbei, und ich stand allein da, am Arsch von Amerika. Ich setzte Kaffeewasser auf, duschte, rasierte mich und putzte mir die Zähne, aber es nützte nicht viel. Ich aß einen Pfirsich (dachte an Prufrock) und ein paar Rühreier. Legte mich wieder hin, diesmal ins Bett, und schlief schon fast, als das Telefon klingelte.
    »Lew? Ich komme morgen früh heim, wenn’s dir nichts ausmacht.«
    »Ich kümmer mich ums Frühstück«, sagte ich einen Moment später.
    »… ich könnte auch heute Abend noch kommen. Oder gleich.«
    »In dem Fall übernimmst du das Frühstück.« Und schlief wieder ein, wachte dann irgendwann später auf, und es roch nach Speck, frisch gemahlenem Kaffee, heißem Fett, Butter. Draußen war es dunkel, und ich blickte nicht durch. Ich ging raus in die Küche.
    »Guten, was weiß ich – Morgen? Abend?«, sagte Verne. »Setz dich hin und nimm dir Kaffee, oder auch umgekehrt.«
    Ich machte es, und während ich trank, zog sie Warmhaltetiegel mit Omeletts und Kartoffeln aus der Röhre, schob mit Butter bestrichenes Brot nach, wühlte sich durch mehrere Schichten Küchentücher und förderte den Speck zutage. Als der Toast fertig war, goss sie mir Kaffee nach, nahm sich ebenfalls eine Tasse, warme Milch und Kaffee gleichzeitig, wie in New Orleans üblich, und setzte sich gegenüber von mir hin.
    »Wie läuft das Buch?«
    »Langsam, wie üblich, aber okay.« Ich sagte nichts von David oder von Janies Anruf. »Ich bau dich vielleicht ein. Nicht dich persönlich, aber jemand, der so ist wie du.«
    »Es gibt niemand, der so ist wie ich, Lew.«
    Ich schaute sie daraufhin an, sah, wie sie ihren Toast hielt, ihn mit leichtem Silberblick musterte, und ich wusste, dass sie recht hatte. Es sind immer Kleinigkeiten, einfache Dinge, die einem das Herz brechen – ein fallendes Blatt, das einen in eine Zeit zurückversetzt, die unwiederbringlich vergangen ist, die Erinnerung an den
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