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Stiller Zorn: Roman (German Edition)

Stiller Zorn: Roman (German Edition)

Titel: Stiller Zorn: Roman (German Edition)
Autoren: James Sallis
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Knöchel einer Frau, ein Lächeln inmitten tausend unbekannter Gesichter, ein Madeleine, ein Stück Toast.
    »Ich glaube, dann musst du herhalten«, sagte ich.
    Wir aßen auf, ohne uns weiter zu unterhalten. »Wenn ich damit fertig bin, verschwinde ich wieder«, sagte Verne, als sie das Geschirr zusammenstellte.
    »Aber du bist doch gerade gekommen.«
    Sie schüttelte den Kopf. »Ein Besuch. Mehr gestehst du einem nicht zu, Lew. Egal, ob’s über Jahre geht oder nur zwei, drei Tage lang, aber bei dir ist man immer nur auf Besuch.« Sie ließ Wasser ins Abwaschbecken einlaufen, gab einen Spritzer Spülmittel dazu. »Du hast mich nie gebeten, bei dir zu bleiben, nicht mal für eine Nacht.«
    »Aber ich dachte immer, ich überlass das dir, Verne.«
    »›Liegt bei dir‹. ›Ganz, wie du willst‹. Wie oft hab ich das in all den Jahren gehört – wenn ich überhaupt was gehört habe. Willst du denn gar nichts, Lew?« Sie drehte sich um, stand mit gekrümmten Fingern da, und das Seifenwasser tropfte ihr von den Händen. Sie schloss die eine Hand, ballte die Faust und legte sie, immer noch tropfend, an die Brust. »Von dir aus könnte ich doch wer weiß wer sein, Lew – irgendeine x-beliebige Frau.« Sie öffnete die Hand. »Für dich sind doch alle Menschen austauschbar, nichts als Gesichter, die einander ziemlich ähnlich sehen, lauter Körper, die man manchmal benutzt, weil sie warm sind und einem guttun.«
    Sie drehte sich wieder zur Spüle um, schrubbte einen Teller ab. Ich holte ein Handtuch aus der Schublade und stellte mich neben sie.
    »Du schreibst doch in deinen Büchern nur über Vergangenes, Sachen, die vorbei sind, erledigt, gegessen.«
    Sie reichte mir den Teller, und sie hatte recht. Ich trocknete ihn ab. Stellte ihn in den Ständer am anderen Ende der Arbeitsplatte.
    »Okay«, sagte ich, »aber trotzdem ist es Blödsinn, wenn du wieder abhaust. Du bleibst hier, behältst das Haus, und ich gehe.«
    Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann bei Cherie wohnen, bis ich eine Bleibe gefunden habe. Mach du, was du willst, mit dem Haus und allem andern.«
    Schweigend erledigten wir den Abwasch, so als ob sich die Vergangenheit oder auch die Zukunft heimlich zwischen uns gedrängt hätte. Ich schaute auf die Uhr über der Spüle. 21 Uhr 47. Als Verne zurückkam und mir mitteilte, dass sie jetzt ginge, war es 22 Uhr 46.
    Nicht lange danach klingelte das Telefon. Ich nahm ab.
    »Ja?«
    »Ist LaVerne da?«, sagte jemand nach kurzem Zögern.
    »Nein.«
    Ich legte auf, schaltete das Licht aus, saß da und starrte raus in die Finsternis. Irgendwo in dieser Dunkelheit, ob in ihrem Schutz oder von ihr verborgen, vielleicht auch darin verloren, war David; und irgendwo waren auch Vicky, Verne und andere, die ich liebte.
    Bei Dunkelheit ist man aufgeschmissen. Die Erinnerung packt einen, während einem Reue und Katzenjammer zusetzen, was das Zeug hält.
    Das Einzige, was dagegen hilft, sind ein paar harte Drinks und der Morgen.

6
    Ich stieß die Tür auf und sah ihn vornübergebeugt an dem zerschrammten Mahagonitresen hocken. Ich setzte mich neben ihn, bestellte mir einen Bourbon und sagte ihm alles, was gesagt werden musste.
    Danach schwiegen wir beide eine ganze Weile. Ich konnte den Verkehrslärm auf der ein paar Häuserblocks entfernten Schnellstraße hören.
    »La vie«, sagte er schließlich, »c’est toujours cruelle, n’est-ce-pas?«
    »Mais oui«, sagte ich. »C’est vrai. Und dabei hilft uns nichts, außer ein paar harte Drinks und der Morgen.«
    »Le matin, der ist noch weit weg, und dagegen kann ich nichts machen. Aber trinken, das kann ich. Eine Flasche bitte«, sagte er zum Barkeeper, und zu mir: »Sind Sie dabei?«
    »Ja«, sagte ich. »Natürlich.«
    Und das war es. Ich schob ein paar Leerzeilen ein und tippte Ende , mixte mir einen weiteren Drink und las die letzten Seiten noch mal durch.
    Kurz nachdem Verne gegangen war, hatte ich mir eine Kanne Kaffee gekocht, die Ventilatoren und die Stereoanlage angestellt und mich in die Arbeit vertieft. Das Telefon hatte etliche Male geklingelt, aber ich hatte mich nicht drum gekümmert, ließ den Anrufbeantworter sein Geld wieder einspielen. Ich hatte mir einen Krug Martini gemixt und ausgetrunken, danach mehr Kaffee, mehr Martini und gegen acht Uhr morgens ein paar Rühreier mit Toast. Dann war ich auf Margaritas umgestiegen, und beim dritten oder vierten war ich am Ende des Romans angelangt, dem bei weitem und mit Abstand besten, den ich je geschrieben hatte,
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