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Stille Tage in Clichy

Titel: Stille Tage in Clichy
Autoren: Henry Miller
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geworden sein mochte. Dann dachte ich an Mara, wie sie in der dunklen Straße schluchzte, und für einen Augenblick überkam mich der quälende, verrückte Gedanke - daß vielleicht im selben Augenblick, als ich mich von Mara losriß, auch Christine in einem trostlosen Hotelzimmer im Schlaf geschluchzt hatte. Immer wieder einmal hatte ich gerüchtweise gehört, daß sie nicht mehr mit ihrem Mann zusammen lebe, sondern ruhelos und einsam von Stadt zu Stadt ziehe. Sie hatte mir nie eine Zeile geschrieben. Für sie war es eine endgültige Trennung. «Für immer», so hatte sie gesagt. Und doch, wenn ich bei meinen nächtlichen Wanderungen an sie dachte, jedesmal, wenn ich vor dem alten Haus auf der Ile St. Louis stand und hinauf zu den Fenstern sah, konnte ich es einfach nicht glauben, daß sie mich für immer aus ihrem Sinn und ihrem Herzen verbannt hatte. Wir hätten den Rat des dicken Mädchens befolgen und heiraten sollen, das war die traurige Wahrheit. Hätte ich nur erraten können, wo sie sich aufhielt, ich hätte sofort einen Zug genommen und wäre zu ihr gefahren. Diese Schluchzer in der Dunkelheit tönten in meinen Ohren. Wie konnte ich wissen, daß sie, Christine, nicht im selben Augenblick auch schluchzte? Wieviel Uhr war es überhaupt? Ich mußte an ferne Städte denken, wo es jetzt Nacht oder früher Morgen war: einsame, gottverlassene Orte, wo hilflose, verwaiste und verlassene Frauen Tränen des Kummers vergossen. Ich zog mein Notizbuch heraus und trug die Stunde, das Datum und den Ort ein... Und Mara, wo mochte sie jetzt sein? Auch sie war aus meinem Leben verschwunden, für immer . Seltsam, wie manche Menschen nur für ein paar Augenblicke in unser Leben treten - und dann fort sind, für immer . Und doch ist nichts Zufälliges an solchen Begegnungen.
    Vielleicht war Mara mir nur gesandt worden, um mich daran zu erinnern, daß ich erst wieder glücklich sein würde, wenn ich Christine wiederfand ...
    Eine Woche später wurde ich in dem Heim einer Hindu-Tänzerin einer außerordentlich schönen Dänin vorgestellt, die erst vor kurzem aus Kopenhagen gekommen war. Sie war ganz entschieden nicht ‹mein Typ›, aber sie war hinreißend schön, das läßt sich nicht leugnen. So, als sei eine Gestalt aus den Sagen ins Leben getreten. Natürlich machte ihr jedermann den Hof. Ich schenkte ihr keine besondere Aufmerksamkeit, obwohl auch meine Blicke ihr dauernd folgten, bis wir in dem kleinen Zimmer zusammentrafen, in dem die Getränke gereicht wurden. Zu dieser Stunde hatten alle, außer der Tänzerin, schon zuviel getrunken. Die dänische Schönheit lehnte, ein Glas in der Hand, an der Wand, ihre Zurückhaltung hatte sie abgelegt. Sie sah aus wie eine, die genommen werden wollte. Als ich zu ihr trat, sagte sie mit einem verführerischen Grinsen: «Sie also sind der Mann, der diese schrecklichen Bücher schreibt?» Ich antwortete erst gar nicht. Ich stellte mein Glas hin und machte mich über sie her, küßte sie blind, leidenschaftlich, wild. Sie entwand sich meiner Umarmung und stieß mich heftig von sich. Sie war nicht böse. Im Gegenteil, ich spürte, sie erwartete, daß ich diese Attacke wiederholte. «Nicht hier», sagte sie laut.

     
    Jetzt tanzte die Inderin. Die Gäste verteilten sich im Zimmer und nahmen höflich ihre Plätze ein. Die junge Dänin, die ausgerechnet Christine hieß, führte mich unter dem Vorwand in die Küche, daß sie mir ein Brot machen wolle.
    «Sie müssen wissen, ich bin verheiratet», sagte sie unvermittelt, als wir allein waren. «Ja, und ich habe zwei Kinder, zwei süße Kinder. Mögen Sie Kinder?»
    «Ich mag Sie» , sagte ich, umarmte sie erneut und küßte sie hungrig ab.
    «Würden Sie mich heiraten», fragte sie, «wenn ich noch zu haben wäre?»
    Ganz so kam das heraus, ohne die geringsten Umschweife. Ich war so erstaunt, daß ich ihr die einzige Antwort gab, die ein Mann unter solchen Umständen geben kann. Ich sagte ja. «Ja», wiederholte ich, «ich würde Sie morgen heiraten. Auf der Stelle, auf das geringste Wort von Ihnen.»
    «Nicht so hastig», scherzte sie. «Ich könnte Sie beim Wort nehmen.» Das sagte sie so überzeugend, daß ich für einen Augenblick stocknüchtern, ja fast erschrocken war. «Oh, ich verlange keineswegs, daß Sie mich sofort heiraten», fügte sie hinzu, als sie mein bestürztes Gesicht bemerkte. «Ich wollte nur sehen, ob Sie einer von denen sind, die immer gleich heiraten wollen. Mein Mann ist tot. Ich bin seit über einem Jahr
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