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Stille Tage in Clichy

Titel: Stille Tage in Clichy
Autoren: Henry Miller
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Pause.
    «Ja, Mara, das bin ich.»

     
    Wieder schwieg sie. Wir gingen noch einen Häuserblock weiter, in beredtem Schweigen, und dann, als wir zu einer ungewöhnlich dunklen Straße kamen, drückte sie meinen Arm noch fester an sich und flüsterte: «Komm, hier entlang.» Ich ließ mich von ihr in die dunkle Gasse hineinziehen. Ihre Stimme wurde rauher, die Worte stürzten nur so über ihre Lippen. Ich habe nicht die leiseste Erinnerung an das, was sie sagte, und glaube auch, sie selbst hatte keine Ahnung, was sie daherredete. Sie redete wild und völlig außer sich gegen ein unerbittliches Schicksal an. Wer immer sie war, sie war namenlos geworden. Sie war nur noch eine gequälte, gehetzte, zerbrochene Frau — ein Geschöpf, das hilflos mit den Flügeln im Dunkeln schlägt. Sie wandte sich an niemanden direkt, und ganz bestimmt nicht an mich . Sie sprach auch nicht mit sich selbst, auch nicht zu Gott. Sie war nur eine stammelnde Wunde, die eine Stimme gefunden hatte, und in der Dunkelheit schien die Wunde aufzubrechen und einen Raum um sich zu schaffen, wo sie ohne Scham oder Demütigung bluten konnte. Die ganze Zeit über hielt sie meinen Arm umklammert, wie um sich meiner Gegenwart zu versichern. Sie preßte ihn mit ihren kräftigen Fingern, als könne ihre Berührung mir vermitteln, was ihre Worte nicht mehr auszudrücken vermochten.
    Plötzlich erstarb ihr blutendes Gestammel. «Leg deine Arme um mich», bat sie. «Küß mich, küß mich so wie im Taxi.» Wir standen vor dem Tor eines riesigen, leerstehenden Hauses. Ich drängte sie an die Mauer und schlang die Arme um sie in einer wahnsinnigen Umarmung. Ich fühlte ihre Zähne an meinem Ohr. Ihre Arme hielten meine Hüfte umschlossen. Mit aller Kraft zog sie mich an sich. Leidenschaftlich flüsterte sie: «Mara versteht zu lieben. Mara tut alles für dich... Embrassez-moi!... Plus fort, plus fort, chéri ...» Wir standen dort in dem Tor und hielten uns umschlungen, stöhnten und flüsterten wirre Sätze. Jemand näherte sich mit schweren, unüberhörbaren Schritten. Wir rissen uns voneinander los, und ohne ein weiteres Wort drückte ich ihr die Hand und ging davon. Die Stille der Straße war so unheimlich, daß ich mich nach wenigen Schritten noch einmal umdrehte. Sie stand noch immer dort, wo ich sie verlassen hatte. Wir verharrten mehrere Minuten lang regungslos, bemüht, die Dunkelheit mit unseren Blicken zu durchdringen. Dann ging ich kurz entschlossen zu ihr zurück.
    «Hör mal, Mara», sagte ich, «und wenn er nicht mehr da ist?»
    «Oh, er ist bestimmt noch da», antwortete sie tonlos.
    «Komm, Mara», sagte ich, «besser, du nimmst das hier... für alle Fälle», und drückte ihr in die Hand, was ich noch in der Tasche hatte. Ich wandte mich ab und ging rasch davon und rief ihr über die Schulter ein rauhes «Au revoir» zu. So ist das, dachte ich bei mir und beschleunigte ein wenig meinen Schritt. Im nächsten Augenblick hörte ich, wie jemand hinter mir herrannte. Ich drehte mich um, und sie stürzte mir atemlos entgegen, umschlang mich wieder mit den Armen und flüsterte überschwengliche Worte des Dankes. Plötzlich fühlte ich, wie ihr Körper an mir herunterglitt. Sie wollte vor mir niederknien. Ich riß sie hoch und sagte, während ich sie mit ausgestreckten Armen von mir hielt: «Mein Gott im Himmel, was ist denn in dich gefahren - hat dich noch nie jemand anständig behandelt?» Das sagte ich fast ärgerlich. Im nächsten Augenblick hätte ich mir am liebsten die Zunge abgebissen. Da stand sie in der dunklen Straße, die Hände vorm Gesicht, den Kopf gesenkt, und schluchzte herzzerreißend. Sie zitterte am ganzen Körper. Ich wollte die Arme um sie legen, wollte sie trösten, fand aber keine Worte. Ich war wie gelähmt. Wie ein scheuendes Pferd lief ich plötzlich davon. Ich lief schneller und schneller, noch immer ihr Schluchzen in den Ohren. Ich lief und lief, schneller, schneller, wie eine aufgescheuchte Antilope, bis ich mich wieder auf einer strahlend beleuchteten Avenue befand.
    «Sie wird in zehn Minuten an der und der Straßenecke stehen. Sie trägt ein rotes, getupftes Musselinkleid und eine Handtasche aus Krokodilleder unter dem Arm ...»
    Carls Worte rotierten beharrlich in meinem Kopf. Ich blickte auf, und da glänzte der Mond, nicht wie Silber, sondern wie Quecksilber. Er schwamm in einem Meer von erstarrtem Fett. Riesige, erschreckende Blutringe umkreisten ihn rund und rund und rundherum. Ich blieb wie angewurzelt stehen. Mir
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