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Stille Nacht

Stille Nacht

Titel: Stille Nacht
Autoren: Mary Higgins Clark
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Sie spürte die
Tränen, die ihr jetzt so leicht kamen, hinter den Augen
aufsteigen. Sie fummelte in ihrer Handtasche auf der Suche nach
einem Taschentuch herum und bemerkte, daß etwas fehlte: das
vertraute schwere Ding, ihr Portemonnaie.
»Oh, mein Gott«, sagte sie. »Mein Portemonnaie ist weg.«
»Mom!« Und jetzt verlor Michael den verdrossenen
    Gesichtsausdruck, mit dem er normalerweise die Angst um
seinen Vater kaschierte. Mit einemmal war er ein verängstigter
Zehnjähriger. »Mom, glaubst du, Brian ist entführt worden?«
    »Wie soll das denn gehen? Keiner könnte ihn einfach so von
hier wegschleppen. Das ist unmöglich.« Catherine fühlte, wie
ihre Beine gummiweich wurden. »Holt die Polizei«, schrie sie.
»Mein kleiner Junge ist verschwunden.«
    Der Bahnhof war voller Leute. Hunderte von Menschen hasteten
in jede Richtung. Und überall waren Weihnachtsdekorationen.
Außerdem gab es Riesenlärm. Die verschiedensten Töne hallten
durch den großen Raum und prallten von der Decke hoch oben
über Brian ab. Ein Mann mit den Armen voller Päckchen stieß
einen spitzen Ellenbogen direkt in Brians Ohr. »Entschuldige,
Kleiner.«
    Es fiel ihm schwer, mit der Frau, die Moms Portemonnaie
hatte, Schritt zu halten. Er verlor sie immer wieder aus den
Augen. Er mühte sich, an einer Familie mit mehreren Kindern,
die ihm den Weg versperrte, vorbeizukommen. Er schlug sich
erfolgreich durch, stieß dann aber mit einer Lady zusammen, die
ihn anfunkelte. »Paß doch auf«, fuhr sie ihn an.
    »Tut mir leid«, sagte Brian höflich, während er zu ihr
aufblickte. In dieser Sekunde entwischte ihm beinahe die Frau,
der er fo lgte, doch er holte sie wieder ein, als sie die Treppe
hinunterging und durch einen langen Gang eilte, der zu einer UBahn-Haltestelle führte. Als sie durch ein Drehkreuz ging,
schlüpfte er unter dem nächsten hindurch und folgte ihr in die
Bahn.
    Der Waggon war so überfüllt, daß Brian es kaum schaffte,
hineinzukommen. Die Frau stand dort und hielt sich an einer
Querstange fest, die oberhalb der Sitze seitlich entlang lief.
Brian stand in ihrer Nähe und umklammerte mit der Hand einen
Pfosten. Sie fuhren nur eine einzige lange Strecke bis zur
nächsten Haltestelle, dann schob sie sich zu den Türen durch,
die gerade aufgingen. Brian standen so viele Leute im Weg, daß
er beinahe nicht rechtzeitig aus dem Wagen ins Freie gelangte,
und dann mußte er sich beeilen, um sie wieder einzuholen. Er
jagte ihr hinterher, als sie die Treppe zu einer anderen U-Bahn
hinauflief.
    Diesmal war der Waggon nicht so voll, und Brian stand in der
Nähe einer alten Dame, die ihn an seine Großmutter erinnerte.
Die Frau in dem dunklen Regenmantel stieg an der zweiten
Haltestelle aus, und während er ihren Pferdeschwanz fest im
Auge behielt, folgte er ihr, als sie die Stufen zur Straße hin
buchstäblich hinaufrannte.
    Sie kamen an einer verkehrsreichen Ecke an die Oberfläche.
In beide Richtungen rasten Busse an ihnen vorbei, die noch die
breite Straße überqueren wollten, bevor die Ampel wieder auf
Rot umsprang. Brian warf einen Blick nach hinten. Soweit er die
Straße überschauen konnte, gab es hier nichts als Wohnhäuser.
Licht strahlte aus Hunderten von Fenstern.
    Die Frau mit dem Portemonnaie stand am Fußgängerüberweg
und wartete auf grünes Licht. Als es aufblinkte, folgte er seinem
Wild über die Straße. Auf der anderen Seite angekommen, ging
sie nach links und schritt zügig den jetzt leicht bergab führenden
Bürgersteig entlang. Während er ihr auf den Fersen blieb, warf
Brian rasch einen Blick auf das Straßenschild. Als sie letzten
Sommer zu Besuch dagewesen waren, hatte seine Mutter ein
Spiel daraus gemacht, ihm die Straßen von New York zu
erklären. »Gran wohnt in der Siebenundachtzigsten Straße«,
hatte sie gesagt. »Wir sind auf der Fünfzigsten. Wie viele
Blocks ist ihre Wohnung von hier weg?« Auf dem Schild hier
stand Vierzehnte Straße. Er mußte das im Gedächtnis behalten,
nahm er sich vor, während er hinter der Frau mit Moms
Portemonnaie herging.
    Er spürte Schneeflocken auf seinem Gesicht. Es wurde
allmählich windig, und die Kälte stach ihm in die Wangen. Er
wünschte, ein Cop würde vorbeikommen, damit er ihn um Hilfe
bitten konnte, aber er sah nirgendwo einen. Er wußte sowieso
schon, was er tun würde - er würde der Frau bis zu ihrer
Wohnung folgen. Er hatte noch den Dollar, den ihm seine
Mutter für den Mann gegeben
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