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Stigma

Stigma

Titel: Stigma
Autoren: Michael Hübner
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Körper war nur noch ein starres Abbild seiner selbst, ein katatonisches Gefängnis, in dem es keinerlei Bewährung gab.
    »Wir brauchen einen Arzt. Holt einen Krankenwagen, schnell!«
    Wie aus einer Einbildung heraus nahm Tom die Berührung wahr, als sein Vater ihm über die Stirn strich. Frank Kessler sah seinem Sohn in die Augen, sah die unvorstellbaren Qualen darin, und seine Miene verfinsterte sich.
    »Sag doch was, Tom. Rede mit mir!«
    Ich bin hier drin, Papa! Es geht mir gut, ich spüre keine Schmerzen mehr!
    Tränen stiegen seinem Vater in die Augen. »Wir sind zu spät gekommen«, flüsterte er. »Zu spät …«
    Aus der Tiefe des Abgrundes heraus sah Tom Hass im Gesicht seines Vaters auflodern.
    »Verdammt noch mal, was hast du mit ihm gemacht, du Schwein?«
    Im Spiegel seiner zornigen Augen konnte Tom einen Gegenstand erkennen, den sein Vater plötzlich in der Hand hielt, ihn fest mit den Fingern umklammerte.
    Was tust du da, Papa?
    »Es wird alles wieder gut, mein Junge«, versicherte Frank Kessler, als hätte er Toms stumme Frage gehört, sie aus den dunklen Schluchten des Abgrundes heraus aufgefangen. Er streichelte ihm sanft den blutverkrusteten Arm, dann wandte er sich von ihm ab und stand auf.
    Nicht, Papa!
    »Mach gefälligst den Mund auf«, herrschte er den Wächter an und verbarg den Gegenstand hinter seinem Rücken, während er auf ihn zuging. »Was hast du mit meinem Sohn gemacht, du Ungeheuer?«
    Der Wächter reagierte nicht. Sein Verstand war ausgeschaltet, und sein leerer, ausdrucksloser Blick war nach wie vor starr auf den Mauervorsprung gerichtet, als befände sich dort etwas, das er für wichtig hielt. Letztendlich war es jedoch nur ein Punkt, auf den sich sein gestörter Verstand fixierte, um nicht völlig den Halt zu verlieren.
    Toms Vater stand jetzt hinter ihm. Er packte den Wächter am Kopf und riss ihn herum.
    »Sieh ihn dir gefälligst an!«, schrie er. »Was dort fast nackt und halb tot in seinem eigenen Blut liegt, ist mein Sohn, du widerliches Stück Scheiße!« Er versetzte dem Knienden mit der flachen Hand einen Schlag auf den Hinterkopf. »Warum?«
    Die anderen Polizisten im Raum hatten die Waffen gesenkt und hielten sich zurück. Fast schien es, als wollten sie ihr Mitgefühl und ihr Entsetzen bekunden, indem sie ihrem Kollegen freie Hand ließen. Eine Art stilles Übereinkommen. Ein Blankoscheck der Vergeltung.
    »Wie ich sehe, ist dir das scheißegal.« Aufgewühlt schritt Frank Kessler hinter dem Wächter auf und ab. »Gott, wie ich Kreaturen wie dich hasse!«, stieß er hervor. »Ihr glaubt, ihr wärt allmächtig, müsstet euch an keine Regeln halten. Und in eurer Geilheit und eurer grenzenlosen Machtbesessenheit vergreift ihr euch sogar an unschuldigen Kindern. Was seid ihr bloß für Menschen?« Er spuckte dem Wächter ins Genick. »Für mich bist du nur Dreck, und wenn es nach mir ginge, würdest du nie wieder einen Sonnenstrahl auf deiner Haut spüren. Aber wie ich unseren Rechtsstaat kenne, reibt sich vermutlich irgendwo da draußen gerade einer von diesen spitzfindigen Anwälten die Hände, weil er medienwirksamen Abschaum wie dich für unzurechnungsfähig erklären darf. Aber dazu lasse ich es nicht kommen. Diesmal nicht.«
    Papa! … Nein!
    Das Knistern eines Funkgerätes war zu vernehmen. Kurz darauf eine kratzige Stimme.
    »Der Notarzt ist unterwegs«, meldete einer der Polizisten.
    »Egal«, sagte Toms Vater ungerührt. »Du jedenfalls brauchst keinen mehr.«
    Die Hand mit dem Gegenstand schnellte nach vorn … und die Klinge des alten Messers, das Tom in der Hektik des Kampfes entglitten war, fand verspätet doch noch ihr Ziel. Dieses Mal jedoch aus den falschen Gründen. Es ging nicht um Selbstschutz, nicht ums Überleben. Das hier war eine Hinrichtung.
    Keiner der Polizeibeamten machte auch nur den Versuch, seinen Vater davon abzuhalten. Die meisten von ihnen hatten selbst Familie, und Tom las stumme Zustimmung in ihren Gesichtern. Sie duldeten es, ließen es geschehen, wegen dem, was sie hier vorgefunden hatten. Weil sie es für gerecht hielten.
    Ein schreckliches Gurgeln ertönte, als das Messer die Kehle des Wächters durchtrennte. Es klang wie das Lachen eines Ertrinkenden. Erst jetzt, im Angesicht des Todes, war in den Augen des Mannes eine Reaktion zu erkennen, ein letztes Aufflackern von Verstand. Dann erstarrten sie, als jegliches Leben aus ihnen wich. Ein Blutschwall spritzte über Tom, legte sich warm auf sein Gesicht. Plötzlich drehte sich
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