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Morland 01 - Die Rückkehr der Eskatay

Titel: Morland 01 - Die Rückkehr der Eskatay
Autoren: Peter Schwindt
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Juri blinzelte durch das von Eisblumen umrahmte Fenster in die tief stehende Mittagssonne. Ihr Licht brach sich im eisigen Dunst rot und vermittelte dabei das trügerische Gefühl von Wärme. Doch die nachtlosen Tage des Sommers waren vorbei, der Boden wieder gefroren. Die nächsten Monate würde die Welt in dämmerigem Zwielicht versinken.
    »Ich habe ein ungutes Gefühl«, hörte er eine Stimme hinter sich sagen. Langsam drehte Juri sich zu seiner Frau Iveta um, die am Tisch saß und ein Kleid ihrer Tochter flickte.
    »Wir haben keine andere Wahl. Die Vorräte reichen noch etwa zwei Monate. Und bald werden die Temperaturen so tief fallen, dass Agneta auf dem Schlitten erfrieren wird.«
    »Die Züge ...«
    »Die Züge werden nicht kommen.«
    »Weil die Gleise unterbrochen sind«, sagte Iveta.
    »Das ist das, was wir glauben sollen«, sagte Juri. »Aber das ist eine Lüge. Man hat uns aufgegeben, so sieht es aus. Keiner schert sich mehr um Horvik. Es gibt kein Eisen mehr, die Bergwerke sind erschöpft. Der ganze Landstrich ist nichts mehr als eine gottverdammte Eiswüste, die sich im Sommer in ein mückenverseuchtes Schlammloch verwandelt.«
    Hinter dem Vorhang, der den Schlafalkoven vom Rest der Hütte abtrennte, war ein Husten zu hören.
    »Wenn Agneta krank wird und wir deswegen hierbleiben müssen, werden wir alle sterben«, flüsterte Juri. »Uns läuft die Zeit davon.«
    Iveta wollte etwas entgegnen, schwieg dann aber nachdenklich.
    »Hör zu: Niemand hat ahnen können, dass die Lage so bedrohlich wird.« Er ging vor Iveta auf die Knie und ergriff ihre kalten Hände. »Bitte, wir müssen morgen Früh aufbrechen. Die anderen Familien packen schon, und wir sollten dasselbe tun.«
    Juri sah die Angst in den Augen seiner Frau. Er konnte es ihr nicht verdenken, dass sie verzweifelt war. Eine Woche würde es dauern, bis sie die Provinzhauptstadt Morvangar erreichten. In diesen sieben Tagen mussten sie tausend Meilen Wildnis durchqueren. Natürlich würden sie versuchen, sich an den Schienen zu orientieren, aber die meisten Bergpässe und Brücken stellten für die Hundeschlitten ein unüberwindliches Hindernis dar. Doch auch wenn der Instinkt der Tiere sie den richtigen Weg finden ließ, war das noch keine Garantie, dass sie wirklich ihr Ziel erreichten. Die Bergwölfe würden ihnen das Leben schwer machen. Aber gegen die halfen zumindest Jagdgewehre. Viel tückischer noch waren die Wetterstürze. Bei einem Wintersturm konnten innerhalb kürzester Zeit die Temperaturen um zehn oder fünfzehn Grad fallen, so schnell war kein Iglu gebaut und mit Zelten brauchten sie es gar nicht erst versuchen.
    Also packten sie. Da nicht viel Platz war, nahmen sie nur Reiseproviant und Felle mit, deren Verkauf ihnen das nötige Geld für einen Neuanfang im Süden ermöglichen sollte.
    Zwei Stunden vor Sonnenaufgang weckten sie Agneta. Gemeinsam nahmen sie eine letzte Mahlzeit in der Wellblechhütte ein, die sie zehn lange Jahre lang ihr Zuhause genannt hatten. Agneta war ganz aufgeregt, als sie ihr erzählten, dass sie heute in ein Land reisen würden, in dem auch im Winter die Sonne schien.
    »Aber Minka kann ich doch mitnehmen?«, fragte sie und drückte ängstlich ihre Stoffkatze an sich.
    »Natürlich«, sagte Juri ernst. »Wir lassen niemanden im Stich.«
    Nicht so wie die hohen Herren von Morstal, der Stahl- und Bergwerksunion Morlands, die sie mit falschen Versprechungen in die nördliche Polarregion gelockt hatten und für die die hungernden Familien nicht mehr existierten. Wie viele von ihnen waren hier oben an den harten Bedingungen zugrunde gegangen und in den abgeteuften Stollen verscharrt worden, weil sie im Permafrostboden keine Gräber hatten ausheben können? Dass Agneta hier mit ihnen am Tisch saß, war fast ein Wunder. Die meisten der hier geborenen Kinder hatten ihren zweiten Geburtstag nicht erlebt.
    Zum letzten Mal spülten sie das Geschirr und räumten es in den Schrank. Dann löschten sie das Feuer im Ofen. Juri brachte den Proviant und die Felle zum Schlitten. Eine Karbidlampe spendete dabei Licht.
    »Juri!«. Er drehte sich um und sah, wie ein Licht auf ihn zutanzte. Es war Pranas, dick eingepackt in einen Fellmantel. Die Gesichtsmaske gegen den Frost war hochgerollt, sodass sie wie eine Mütze aussah. Die Eisbrille baumelte um den Hals. »Wo bleibt ihr so lange? Wir sind schon fertig!«
    »Zwei Jahre haben wir die Entscheidung immer wieder aufgeschoben, da wird es auf die fünf Minuten nicht mehr ankommen«,
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