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Sternenspiel

Sternenspiel

Titel: Sternenspiel
Autoren: Sergej Lukianenko
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wären dazu verpflichtet gewesen. Sie hätten auf einer anderen Strafe bestehen müssen. Oder … oder den Vorfall vertuschen müssen.«
    »Du klagst mich an?«, fragte ich verwirrt. Oder war das nicht ich? Sondern der Ausbilder Fed, der sich in mir eingenistet hatte? Der Ausbilder Fed, der bereit war, die Geometer mit ihren eigenen Waffen zu schlagen, die fünfte Kolonne in den schneeigen Weiten zu erziehen, zu lügen und zu lehren – um der hehren Ziele willen?
    »Ja«, antwortete Katti seelenruhig. »Ich klage Sie an, Ausbilder. Und ich kann das gern vorm Weltrat wiederholen.«
    Nein, diese Welt war kein hoffnungsloser Fall. Sie war nicht einmal statisch. Sie rollte den Hang hinunter, aber jetzt stand ich auf dem Weg. Ich konnte sie ebenso gut hochwerfen wie fallen lassen, für mich bedeutete das keinen Unterschied. In jedem Fall brauchte ich bloß die Hand auszustrecken und ihr einen Schubs zu geben.
    Was für eine süße Versuchung – einen Moment lang an sich selbst zu glauben!
    »Niki hat ein Gedicht geschrieben«, sagte Katti leise. »Vor langer Zeit hat er es mir vorgetragen. Er schien förmlich geahnt zu haben, was mit ihm passieren würde … dieses Unglück …«
    Ich schwieg, unterbrach sie nicht. Sie war nicht hierhergekommen, um den Ausbilder Fed anzuklagen oder um für den im Schnee vermissten und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit toten Nik Rimer zu bitten. Sie brauchte jemanden, mit dem sie über Niki reden konnte.
    Und Tag und Han taugten dafür nicht. Vielleicht, weil sie es fertiggebracht hatten, mir die Arme auf den Rücken zu drehen?
     
    »Gestern Abend stopfte ein Fremder mit
    Gedächtnisschwund
    all meine Erinnerungen in eine große goldene Kugel«,
     
    brachte Katti nachdenklich hervor.
    Und ich, versteckt im Körper des Ausbilders Fed, erzitterte, weil ich mich an Nikis Gedicht erinnerte.
    An diese seltsamen Zeilen über einen Menschen, der nur eins wollte, nämlich nach Hause kommen, und nicht wusste, dass in seinem Haus ein fremdes Gedächtnis auf ihn lauerte.
     
    … und die Kugel rollte einen Korridor entlang
    kullerte die Treppe runter
    und warf
    direkt vor der Wohnung der Portiersfrau
    einen Herrn um
    gerade als er beim Nachhausekommen seinen Namen
    sagen wollte
    Und die Kugel hat ihm all meine Erinnerungen in den Kopfgepfropft so dass er meinen Namen sagte statt seinen und siehe da
    jetzt habe ich ein Weilchen Ruhe
     
    Nik-Nik-Niki … du Junge einer fremden, fernen Erde, die unserer Erde so ähnlich ist … Es war unser Schicksal, uns zu begegnen – auch wenn du zum Zeitpunkt unserer Begegnung schon tot warst. Trotzdem sitzt du in mir, und etwas von dir lebt noch in mir. Im Unterschied zum Ausbilder Fed, von dem nichts übrig bleiben wird.
    Du wirst leben, solange ich lebe. Vielleicht wirst du das erste Mal im Leben ruhig sein. Wenn auch nur für ein Weilchen.
    Und Katti trug das Gedicht weiter vor, leicht und mühelos, sie kannte es auswendig, und ich verkrampfte mich, weil ich wusste, was sie gleich sagen würde:
    »Er hat sich alles einverleibt
    ich erinnere mich an nichts und erging weinen am Grab meines Großvaters väterlicherseits jenes gescheiten Heuschreckenzüchters der nicht viel taugte der aber vor nichts Angst hatte und der malvenfarbene Hosenträger trug. Seine Frau nannte ihn großes Faultier oder vielleicht auch großes Maultier ja ich glaube großes Maultier oder sonst wie was weiß ich woran erinner ich mich denn schon All das Nichtigkeiten Kram in Schubfächern Krümel meines Gedächtnisses Ich kenne das letzte Wort der Geschichte nicht mehr«
     
    »Er war ein guter Dichter«, sagte ich. »Er war ein echter Dichter, Katti.«
    »Ich kann es noch weiter«, sagte Katti.
    Auch ich konnte das. Deshalb fuhr ich fort:
     
    »Und das Gedächtnis
    wie ist es beschaffen das Gedächtnis
    wie sieht es aus
    wie wird es später aussehen
    das Gedächtnis«
     
    »Ich wusste gar nicht, dass Niki Ihnen das Gedicht vorgetragen hat, Ausbilder«, brachte Katti nachdenklich und vielleicht sogar verlegen heraus. »Er hat es erst vor drei Monaten geschrieben. Wussten Sie wirklich, dass Nik weiterhin Gedichte geschrieben hat, Ausbilder?«
    Ich schwieg. Für mich gab es nichts mehr zu sagen.
    »Sie haben das Gedicht sehr gut vorgetragen, Ausbilder Fed.« Katti hielt den Blick, der immer verständnisloser wurde, fest auf mich gerichtet. »Fast wie Niki. Wie Niki.«
    Und nun bist du aufgeflogen, Petja Chrumow.
    Es gibt da ein Ding namens Seele, und das lässt sich nicht
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