Sternenfaust - 139 - Jagd auf Nickie Berger
zwischen den ganzen Hochhäusern und Kirchen aller Art im Sonnenlicht glitzern sehen. Berlin war offensichtlich stolz auf sein Wahrzeichen; die Städteplaner hatten dafür gesorgt, dass der vergleichsweise doch eher kleine Reichstag nicht im Meer der Bauten unterging.
»Sie scheint mir wie ein alter Bär: Tapsig und kraftlos fällt’s ihm schwer, in diesem Käfig stark zu sein …« Der unbekannte Sänger legte noch eine Schaufel nach, wie es schien. Mit Inbrunst klagte er Berlin an, beschuldigte es des Stillstands, des Komas, der Lebensunfähigkeit. Nickie sah hinaus auf das emsige Treiben und schüttelte den Kopf.
»Er meint nicht das Berlin da«, sagte plötzlich eine Stimme direkt neben ihr.
Nickie erschrak so sehr, dass ihr fast die Tasse aus der Hand gerutscht wäre. Der Wirt, ein bärtiger, stämmiger Geselle mit grauem Haar und einer beachtlichen Wampe, war zu ihr getreten. Sie war wohl zu sehr abgelenkt gewesen. Das durfte eigentlich nicht geschehen, schalt sie sich in Gedanken. Nicht, wenn man auf der Flucht war, untertauchen wollte und jedes Gegenüber ein potenzieller Verräter sein konnte.
»Nicht das Berlin?«, wiederholte sie, für einen Augenblick irritiert. Sie hatte dieses kleine Restaurant extra ausgewählt, weil es so schäbig aussah. Immerhin hatte es eine ansehnliche Karte an synthetischen Heißgetränken jeden Aromas. Direkt an einer Hauptverkehrsstraße gelegen, waren seine Tische und Bänke dennoch leer gewesen. Außer Nickie und dem Wirt war niemand da. Perfekt.
Der Dicke schien mit Herzlichkeit ausgleichen zu wollen, was seinem Laden an Klasse abging. »Na ja, nicht das heutige«, sagte er. »Hoffmann singt vom geteilten Berlin. Vom Westberlin vor der Wiedervereinigung, das in seinen Augen von der Bundesrepublik künstlich am Leben erhalten wurde, obwohl es doch … Wie singt er? … nicht mehr sei als ein stacheldrahtumzäuntes Panoptikum.«
Wiedervereinigung. Richtig, da war mal was gewesen. Nickie rief sich die deutsche Geschichte des Zwanzigsten Jahrhunderts in Erinnerung. Mit einem Mal kam ihr diese doch so austauschbar aussehende Riesenmetropole da draußen viel bedeutsamer vor. Besonderer.
Im Radio fragte dieser Hoffmann, wer immer er sein mochte, gerade, wann man Berlin endlich den »letzten harten Brüderkuss« gebe, den es angeblich so nötig habe, und Nickie musste wieder den Kopf schütteln. »Kommunistisch sieht das aber nicht gerade aus«, murmelte sie.
Der Wirt lachte. »Ist auch ‘ne Weile her, dass Hoffmann hier lebte.« Er deutete in eine Richtung, die Nickie für Osten hielt. »Ein paar Jahrhunderte … Wenn Sie neu hier sind: Da hinten geht’s zum Checkpoint Charlie. Den sollten Sie sich nicht entgehen lassen, wenn Sie die deutsche Teilung interessiert.«
»Dann verstehe ich auch Hoffmann besser, vermute ich«, sagte Nickie lächelnd. »Danke für den Tipp.«
Mit einem freundlichen Nicken verabschiedete sie sich von ihrem Wirt – und sorgte mit mentaler Kraft dafür, dass er sich nicht an ihren Besuch erinnern konnte. Dann nahm sie die Treppe hinunter ins Erdgeschoss der Einkaufs- und Restaurantpassage. Sie zog die alberne Schirmmütze mit dem »I LOVE BÄR-LIN«-Aufdruck tief ins Gesicht, schlug den Kragen hoch und trat hinaus.
Draußen wallte ihr ein Gemisch aus unterschiedlichsten Düften entgegen, und die optischen Reize waren nicht minder vielfältig. Menschen und Vertreter anderer Rassen strömten an ihr vorbei, viele fröhlich, manche geschäftig schnell. Schlipsträger folgten auf Künstlertypen, Alte auf Junge. Nickie bemerkte erst auf den zweiten Blick, dass besonders viele junge Leute mit nacktem oder nur notdürftig bekleidetem Oberkörper herumliefen. Statt eines Shirts oder eines Pullovers trugen sie Nanopaintings, wie sie in letzter Zeit zunehmend in Mode kamen: naniten-gesteuerte Körperkunst, die unter die Haut injiziert wurde und dafür sorgte, dass sie ihre Pigmentfarbe nach Belieben des jeweiligen Trägers änderte. Der Anblick erinnerte an Tätowierungen – nur, dass diese ein- und ausschaltbar waren und sich die Motive nach Herzenslust modifizieren ließen.
Andere Vertreter des Jungvolks trugen Frisuren zur Schau, die diesem Telepathen zur Ehre gereicht hätten, diesem Izanagi Narada. Je mehr sich Nickie umschaute, desto mehr überkam sie der Eindruck, die ganze deutsche Hauptstadt sei voll mit kleinen Naradas. Zumindest optisch.
Einen Moment lang hielt sie inne und ließ die lebendige, junge Atmosphäre dieser doch so
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