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Stein und Flöte

Stein und Flöte

Titel: Stein und Flöte
Autoren: Hans Bemmann
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gelingen, daraus aufzuwachen. Er schlenderte ziellos durch die Gassen oder saß vor dem Haus auf dem Hackklotz und starrte vor sich hin. Von Zeit zu Zeit holte er den Stein aus seiner Tasche und betrachtete ihn. Es schien ihm, als ginge eine Art Trost von diesem kühlen, glatten Stein aus. Und dann fiel ihm auch wieder ein, was der Alte zu ihm gesagt hatte, ehe er gestorben war.
    Eines Tages ging Lauscher zu seinem Vater und sagte: »Gib mir ein Pferd und ein paar Vorräte. Ich will in das Land hinter den Wäldern von Barleboog reiten, um meinen Großvater zu suchen.«
    »Eigentlich gedachte ich, dich zu meinem Nachfolger heranzubilden«, sagte der Große Brüller und dämpfte dabei seine Stimme, wie es ihm schon zur Gewohnheit geworden war, wenn er mit seinem Sohn sprach.
    »Ich weiß nicht, ob ich zum Richter tauge«, sagte Lauscher. »Brüller bin ich keiner, Streit kann ich nicht ertragen, und ehe ich meine Stimme zu erheben vermag, werde ich noch viel zuhören müssen.«
    »Ich sehe schon«, sagte der Große Brüller, »du bist wirklich von der Art des Sanften Flöters. Suche ihn also auf. Ich will dir ein Pferd geben und alles, was du für die Reise brauchst.«
    Am nächsten Morgen schon sattelte Lauscher sein Pferd und packte ein paar Vorräte in seinen Mantelsack. Für den Augenstein hatte er sich einen Lederbeutel genäht, den er an einer Schnur um den Hals trug. Als er sich von seinen Eltern verabschiedete, sagte seine Mutter zu ihm: »Reite immer nach Westen durch die Wälder von Barleboog und laß dich nur nicht aufhalten. Aus diesem Dickicht ist schon mancher nicht mehr zurückgekehrt. Und lausche auf den Klang der Flöte. Wenn du ein Lied hörst, bei dem dir die Tränen kommen, ist der Sanfte Flöter nicht mehr weit. Sage ihm Grüße von seiner Tochter.« Dann küßte sie ihren Sohn, und Lauscher ritt davon, geradewegs nach Westen auf die Wälder von Barleboog zu.
    Am ersten Tag kam er bis zum Waldrand. Er band sein Pferd an einen Baum, machte sich ein Feuer und aß etwas von seinen Vorräten. Dann nahm er den Augenstein aus dem Beutel und ließ seine Farben im Licht der untergehenden Sonne spielen. Über ihm im Baum saß eine Amsel und flötete ihr Abendlied. Das klang so süß, daß Lauscher sich fragte, ob der Sanfte Flöter schon in der Nähe sei. Doch das konnte wohl nicht sein; denn einmal lagen noch die unermeßlichen Wälder von Barleboog zwischen ihm und dem Großvater, und außerdem blieben seine Augen trocken. Er blickte hinauf in das Geäst und sah die Amsel dicht über seinem Kopf auf einem Zweig sitzen. Sie war jetzt verstummt und beäugte den Stein, den Lauscher noch immer in der Hand hielt.
    »Das Glitzerding gefällt dir wohl?« sagte er. Als ob sie ihn verstanden hätte, flatterte die Amsel von ihrem Zweig auf Lauschers Schulter. Er zerbröckelte mit der anderen Hand ein Stück Brot und hielt der Amsel die Krümel hin. Sie hüpfte auf seine Hand und pickte das Futter auf.
    »Mir scheint, ich habe schon eine Freundin gefunden«, sagte Lauscher. Sie blickte ihn mit ihren glänzenden schwarzen Augen an und flötete einen Dreiklang wie zur Bestätigung. Dann flog sie wieder hinauf auf ihren Zweig und kuschelte sich zum Schlafen zusammen. Da nahm auch Lauscher seine Decke vom Pferd und streckte sich neben dem verlöschenden Feuer aus.
    Am nächsten Morgen ritt er in den Wald hinein. Er hatte einen schmalen Pfad gefunden, der nach Westen zu führen schien und dem er sieben Tage lang folgte. Anfangs ließ es sich gut reiten. Es ging durch uralte Buchenwälder. Wie riesige Säulen ragten die silbergrauen glatten Stämme empor und trugen oben ein dichtes Blätterdach, das nur grünes Dämmerlicht hindurchließ. Hier war der von braunem alten Laub bedeckte Boden frei von Unterholz.
    Später traten die Stämme dichter zusammen, Äste ragten quer über den Pfad, und Lauscher mußte achtgeben, daß er nicht unversehens vom Pferd geschlagen wurde. Der Pfad wurde immer schmaler und schlängelte sich schließlich als kaum noch wahrnehmbare Spur durch dichtes Gestrüpp. Schließlich mußte Lauscher absteigen und sein Pferd am Zügel führen. Immer wieder zerrten Brombeerranken an seinen Kleidern, er mußte über gestürzte Baumstämme klettern und Sumpflöchern ausweichen, in denen mannshohe Binsen und Schachtelhalme wucherten.
    Am Abend des siebenten Tages stolperte er abgerissen und verschwitzt auf eine Lichtung, die sich unversehens hinter einer Mauer von Gestrüpp geöffnet hatte. Er beschloß,
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