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Stein und Flöte

Stein und Flöte

Titel: Stein und Flöte
Autoren: Hans Bemmann
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hier die Nacht zu verbringen. Nachdem er sein Pferd versorgt hatte, machte er Feuer und aß die letzten Vorräte. Dann holte er wieder den Augenstein aus dem Beutel und schaute ihn an. Aber ob nun die Sonne schon zu tief stand oder der Schatten des Waldes sich düster über ihn legte: seine Farben blieben unter der glatten Oberfläche verborgen. Er sah nicht anders aus als irgendein runder Kiesel, den man aus einem Bach aufgelesen hat.
    »Ein hübsches Spielzeug hast du da«, sagte eine Stimme hinter ihm.
    Lauscher fuhr herum und erblickte eine Frau, die an einem Baum lehnte. Diese Frau schien ihm über die Maßen schön. Sie schaute ihn aus ihren dunkelblauen Augen an, und diese Augen übten eine solche Gewalt auf ihn aus, daß es ihm Mühe machte, den Blick abzuwenden.
    »Deine Augen sind schöner«, sagte er, und als er wieder auf seinen Stein blickte, erschien er ihm tatsächlich matt und glanzlos neben den Augen dieser Frau.
    »Hat dich der Stein hierhergeführt?« fragte die Frau.
    Lauscher blickte sie erstaunt an. Konnte das sein? Weswegen war er überhaupt hierhergekommen? Er wußte es nicht mehr. Wie hatte der alte Beutereiter geraunt: Folge dem Schimmer, folge dem Glanz – war es das, was er suchen und finden sollte?
    »Ich weiß nicht«, sagte er. »Vielleicht hat mich dieser Stein hergeführt.«
    »Bist du ein Steinsucher?« fragte die Frau. »Dann bist du zum rechten Ort gekommen. Ich werde dir so schöne Steine zeigen, wie du in deinem Leben noch nie gesehen hast. Wie heißt du?«
    »Man nennt mich Lauscher, den Sohn des Großen Brüllers.«
    »Des Richters von Fraglund? Da hast du einen gewaltigen Mann zum Vater.«
    »Das ist er wohl«, sagte Lauscher. »Und wer bist du?«
    »Ich bin Gisa, die Herrin von Barleboog«, sagte die Frau. »Wenn dein Pferd nicht zu müde ist, dich noch ein paar Schritte zu tragen, brauchst du heute nicht auf dürrem Laub und Moos zu schlafen.«
    Lauscher löschte das Feuer, packte sein Pferd auf und führte es am Halfter, während er neben Gisa über die Lichtung ging. Sie bogen um eine vorspringende Waldzunge, und da sah Lauscher das Schloß der Herrin von Barleboog vor sich liegen. Die Lichtung öffnete sich hier zu einem breiten Talkessel, in dessen Mitte das Schloß auf einem Hügel emporragte, gekrönt von Zinnen und Türmen, ein düsteres Gemäuer aus schwarzen Basaltblöcken, dessen gewaltiger Umriß die Landschaft beherrschte. Hier am Waldrand hatte Gisa ihr Pferd an einen Baum gebunden. Sie machte es los und schwang sich in den Sattel, ohne sich von Lauscher helfen zu lassen. Da saß auch er auf und ritt neben ihr durch den Talgrund und den steilen Weg hinauf zum Schloß. Als sie zum Tor kamen, wurde an rasselnden Ketten die Zugbrücke herabgelassen. Sie ritten hinüber, dann ging es durch eine düstere Einfahrt, die im Innenhof mündete. Eilfertig liefen Bedienstete herbei, nahmen Lauscher Pferd und Gepäck ab, und Gisa befahl ihnen, für den Gast ein Bad und frische Kleider herzurichten.
    Bald darauf saß Lauscher Gisa gegenüber an einem Tisch in der Halle, und die Diener trugen ein Mahl auf, frisch gefangene Fische, Wildbret und dazu einen schweren, goldenen Wein.
    »Dir fehlt es an nichts«, sagte Lauscher, als er sich gesättigt zurücklehnte.
    »Nein«, sagte Gisa. »Ich bin die Herrin, und mir gehört alles ringsum, so weit das Auge reicht.«
    »Dir allein?« fragte Lauscher.
    »Mir allein. Aber das könnte sich ändern.« Bei diesen Worten blickte sie ihn wieder mit ihren zwingenden Augen an, die Lauscher alles vergessen ließen, was vorher gewesen war.
    »Was willst du damit sagen?« fragte er.
    »Daß ich die Herrschaft mit dir teilen könnte, wenn du dich als tüchtig erweist. Willst du das?«
    Lauscher blickte ihr in die Augen und wußte jetzt, daß dies das Ziel sein mußte, zu dem er unterwegs gewesen war.
    »Ich will es versuchen«, sagte er. »Es scheint mir der Mühe wert zu sein.«
    »Dann befiehl du jetzt den Dienern, das Geschirr abzutragen.«
    Lauscher zögerte. »Werden sie mir gehorchen?« fragte er.
    »So darfst du nicht fragen, wenn du befehlen willst«, sagte Gisa ungeduldig. »Sag es ihnen!«
    Lauscher blickte hinüber zu den Dienern, die wartend an der Saalwand standen. »Kommt und räumt das Geschirr ab!« sagte er mit seiner leisen Stimme. Die Diener blickten unschlüssig auf ihre Herrin. Gisa lachte. »Du mußt schon ein bißchen lauter reden«, sagte sie. Dann wendete sie sich den Dienern zu und sagte schroff: »Hört ihr nicht, was
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