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Steile Welt (German Edition)

Steile Welt (German Edition)

Titel: Steile Welt (German Edition)
Autoren: Stef Stauffer
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Weg der Hexen, der steile und felsige Pfad, der sich wenige Minuten nach Mosogno zum Valleggio della Cavuria schlängelte, hinab bis zu einer Felsspalte, die von einer Brücke überspannt wurde, einer Brücke bestehend aus vier Baumstämmen aus Fichtenholz, die von Rand zu Rand über die Schlucht geworfen worden waren. Danach stieg der Weg wieder an, gleichermassen steil und gefährlich, am Hang von Russo entlang bis zu den ersten Hütten des Dorfes. Niemand hatte das bis jetzt riskiert, diesen Weg zu gehen, allein, bei Nacht. Die Männer aus Angst vor der Gefahr, die Frauen ganz einfach aus Furcht vor den Hexen. Es muss hier bemerkt werden, dass am Hang von Russo, ungefähr hundert Meter oberhalb des Weges, verborgen hinter uralten Pflanzen, ein halbkreisförmiges Feld lag, Kreis der Hexen genannt. Niemand hatte jemals dort auch nur ein einziges Kräutlein abgeschnitten, aus Furcht, das Böse in den Stall zu tragen, niemand hatte je einen dürren Ast aufgelesen, aus Angst, das Unheil ins Haus zu holen.
    Der Kaplan stieg mir grosser Vorsicht den Weg hinab. Mit dem Stock sicherte er jeden seiner Schritte ab. Der Donner krachte ohrenbetäubend. Das unablässige Flackern der Blitze machte die Laterne fast unnötig. Das Wasser prasselte auf ihn nieder. Auf halbem Weg hinunter zum Bach verstärkte sich der Donner noch, ihm vorausgehend ein drohender Blitzstrahl. Mit fürchterlicher Wucht schlug er in der Nähe ein, einen grellen Schein hinter sich lassend. Als der Kaplan, verstört und entsetzt, wieder richtig zu sich kam, sah er eine Ranke im Wäldchen wahrhaftig weiss glühen. Ihr Licht beschien die Umgebung, und die umliegenden, ächzenden Bäume warfen gigantische Schatten auf den Halbkreis. Der Kaplan bekreuzigte sich, und von der Furcht gepackt, diesen hellen Schein ausnutzend, beschleunigte er seinen Schritt, erreichte die Brücke, überquerte sie behutsam und begann eilig den Aufstieg. Kaum war er zuoberst, als ein weiterer Blitz einschlug, unmittelbar gefolgt von einem ohrenbetäubenden und anhaltenden donnernden Geräusch aus dem nahen Steilhang. Man hörte Felsblöcke in den Abgrund stürzen. Der Kaplan drehte sich um und sah, von Entsetzen gepackt, dass das glühende Gewächs verschwunden war. Begraben unter einem riesigen Felsen.
    Dio mio! Vor welchem Unglück wurde ich bewahrt! Rief der Kaplan aus, gewandt seinen Gang wieder aufnehmend in Richtung seines Häuschens hinter der Kirche. In den Hütten rundherum brannte hinter den mit Pergament bedeckten Fenstern der Schein der immer noch glühenden Feuer.
    Am nächsten Tag erzählte man sich in Russo und Mosogno, in allen anderen Dörfern ein paar Tage später, dass der Kaplan, der den Weg der Hexen allein und während des Gewitters gegangen sei, auf dem Hexenkreis die Hexen mit den Kobolden um ein grosses Feuer habe tanzen sehen. Er habe das Zeichen des Heiligen Kreuzes geschlagen, und als er weiter aufgestiegen sei, habe er sich umgedreht, eine Teufelsaustreibung gemacht, und ein Felsblock, gross wie ein Berg, sei auf den Kreis der Hexen herabgestürzt, habe die Hexen auf der Wiese unter sich begraben und sie mitsamt ihrem Hexenwerk und dem Wäldchen für immer beerdigt.
    Wie sich das nun tatsächlich zugetragen hat, kann heute niemand mehr sagen. Nur der Fels, der ist noch da.
    So ist das mit den Geschichten. Nichts ist so wahr, wie dann, wenn es passiert. Alles danach ist retouchiert. Nachgebessert oder schöngefärbt. Kleingeredet oder wird gar verschwiegen. Wie auch immer, verändert auf jeden Fall. Ob man das nun will oder nicht. Aus einem fremden Mund kommen Begebenheiten immer anders heraus. So wird das mit unseren Geschichten auch passieren. Von jetzt an sind es deine. Du hast sie von uns bekommen. Jetzt liegt es in deiner Hand, was du damit machst. Dass alle zufrieden sein werden, damit kann man nicht rechnen. Das ist auch nicht wichtig. Wichtig ist, dass sie nicht verloren gehen. Um zu verstehen, warum etwas ist, wie es ist, muss man wissen, wie es einmal war. Das kannst du nun weitergeben.»
    Es ist nun also soweit, diese hiesige Gegenwärtigkeit der Vergangenheit zu überlassen und sie als Erinnerung mit in die Zukunft zu nehmen. So packt man die Koffer in den Raum, der dafür vorgesehen ist, und die Geschichten in die Bücher. Das Krähenpaar fliegt jetzt zu dritt.
    Die Abfahrt wird noch etwas hinausgezögert am Küchentisch. Che buona torta di pane! Con noci, mandorle e fighi. Und Mehl aus der kleinen Mühle. Mit allem, was halt da ist. Und wenn
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