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Steile Welt (German Edition)

Steile Welt (German Edition)

Titel: Steile Welt (German Edition)
Autoren: Stef Stauffer
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einen diese Erfahrung ein Leben lang. Mit der Zeit lernt man zu unterscheiden, welche Voraussetzungen man als gegeben akzeptieren muss und in welchen Bereichen man etwas bewirken kann. Man stellt fest, dass dies fast überall und jederzeit möglich ist. Dass man fast immer die Wahl hat, etwas so oder anders zu tun. Wenn man sich dessen bewusst wird, hört das Klagen auf und man nimmt die Verantwortung für das eigene Leben wahr. Wenn die Lösung auch manchmal bloss in einem alten Veloschlauch liegt, man muss einfach auf die Fingerzeige des Schicksals achten. Diese Erkenntnis hat mich mein ganzes Leben lang geleitet. Ohne diese hätte ich mich vielleicht in diesem Tal nicht behaupten können. Wer weiss. Denn die Entscheidung, hier zu bleiben, fiel nicht aus dem Grunde, weil es keine Alternative gab, nein, es war meine ausdrückliche Absicht, an diesem Ort zu wirken und zu leben. Und hier meine Spuren zu hinterlassen, auch wenn nach meinem Tod niemand in meine Fussstapfen treten wird. Das wiederum ist schade. Aber eine von den Sachen, die sich nicht ändern lassen.»

na véa
    Incöö l’è l’ültim dì
dumágn l’è la parténza
a famm la riverénza
a chi ch’a rèsta chi.
    Heute ist der letzte Tag, morgen ist die Abreise, so erweist man denen die Referenz, die hierbleiben.
    Der Spätsommer hat einen ersten Schimmer Gold über die Bäume geworfen. Diese Jahreszeit steht dem Tal besonders gut. Wie alle anderen im Übrigen auch. Aber jetzt erscheint die Landschaft in ihrem besten Licht. Wenn nur der Nebel dieses nicht schon bald wieder unter den Scheffel stellt. Doch auch Bescheidenheit will geübt sein.
    Die Kastanien hängen noch grün und stachlig an den Ästen. In den Jagdhütten haben die Männer Stellung bezogen. Wer nicht mit kann, kramt in seinem Latein von früher. Kaum einer ohne Erfahrung als Gamsjäger.
    Die Tiere kommen manchmal bis zu den Dörfern. Am frühen Morgen oder abends in der Dämmerung könnte man sie von der Strasse aus abschiessen. Das lässt aber der Ehrgeiz nicht zu. Vom Haus aus will man ihnen zuschauen, auf dem Berg nur pirscht man sich an. Der Heli trägt Gas, Lebensmittel und Wein in die Hütten. Für zwei Wochen muss es reichen. Für zwei Wochen sind die Frauen wieder ohne Männer im Haus.
    «Manchmal am Abend, das war selten, erzählte uns der Vater eine Geschichte. Wir sassen alle am Feuer und hingen an seinen Lippen. Vielleicht erinnere ich mich darum so gut, weil das fast nie vorkam. Erstens, dass er überhaupt bei uns war, und zweitens, dass er Geschichten erzählte. Vielleicht aber auch, weil seine Geschichten immer vom Tal handelten. Von Orten, die wir kannten und wo wir immer wieder vorbeikamen. Seine Geschichten waren aber auch immer ziemlich unheimlich. Immer kamen Hexen oder Geister vor, und wir wussten nie ganz genau, ob wir das jetzt einfach als Märchen abtun konnten oder ob da nicht doch etwas Wahres dran wäre. Die Geschichte, an die ich mich am besten erinnere, ist die eines Kaplans, der auf seinem Heimweg am Abend von einem Gewitter überrascht wurde. Der Vater hat sie sicher mehrmals erzählt. Mir ist die Folge der Wörter so vertraut, als kennte ich sie auswendig. Ich bin gespannt, ob ich sie bis ganz zum Schluss richtig nacherzählen kann.
    Es zog also ein bedrohliches Unwetter auf. Schwarze Wolken türmten sich übereinander, von Zeit zu Zeit von einem Blitz geteilt, und der Donner grollte hinter dem Pizzo della Croce. Der Priester verlängerte seinen Schritt, um beim nächsten Haus einkehren zu können, bevor die Dunkelheit endgültig hereingebrochen war. Er klopfte an, und ihm wurde sofort geöffnet. Herr Giacomo und Frau Anna Maria, gleichzeitig auf ihn einredend, luden ihn ein, einzutreten, sich aufzuwärmen und mit ihnen zu essen, während die Magd das Zimmer vorbereitete.
    Ich kann nicht, meinte der Kaplan. Morgen früh um sieben muss ich in Crana zu Messe und Kommunion sein, und um zehn Uhr ist gesungene Messe in Russo, eine Predigt muss ich auch halten. Darum werde ich mich beeilen, geben Sie mir einen Sack über die Schulter und eine Laterne. Herr Giacomo begriff, dass es nichts nützen würde, Einwände zu erheben, suchte einen Mantel, die Laterne und einen Wanderstock. Anna Maria schlug verängstigt die Hände vors Gesicht und rief: Jesusmaria! Bei diesem Wetter! Allein! Nimmt er den Hexenweg. Und setzte sich mit Maddalena, der Magd, welche vor Angst noch mehr zitterte als die Herrin, an den Kamin, und zusammen beteten sie den Rosenkranz.
    Er hiess
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