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Steile Welt (German Edition)

Steile Welt (German Edition)

Titel: Steile Welt (German Edition)
Autoren: Stef Stauffer
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Begeisterung gilt es durchzustehen. Und dann ist es gut. Richtig gut.
    «Letzte Nacht auf der Salei. Man ist alle zehn Minuten aufgestanden, weil das Haus geschüttelt wurde vom Groll des Donners. Alles hat gezittert. Man ist ja einiges gewohnt hier an Zügellosigkeit der Elemente. Die Natur scheint ihren ganzen Zorn bei uns über den Bergen zu entladen. In einem Jahr, da war ich auch da oben, schlug unweit der Alphütte ein Blitz in die Fahnenstange. Die Fahnenstange, das war ein abgestorbener Baum, der aus einem Felsen gewachsen war. Man hatte die dürren Äste abgesägt und die Fahne daran befestigt, wenn man oben in der Hütte war. Die Wucht des Blitzes, der den Stamm hinabfuhr, spaltete den Felsen. Das sieht man noch heute, diesen Bruch im Stein. Den Baumstamm aber nicht mehr. So ist eben alles vergänglich, bis auf den Fels.
    Im Alter von vielleicht fünf Jahren, ich weiss das nicht mehr so genau, hatte ich Mumps. Es war die erste meiner vielen Krankheiten, an die ich mich erinnere. Ich muss ziemliches Fieber gehabt haben, und meine Ohren, nein, der ganze Kopf tat mir weh. Die anderen waren schon besorgt um mich. Aber trotzdem lachten sie über meinen Anblick. Das konnte ich nicht verstehen. Wie man einen Kranken auslachen konnte. Es gab keinen Spiegel auf meiner Augenhöhe. Sonst hätte ich selber gesehen, wie komisch ich aussah. Sie hatten es mir dann schon gezeigt. An diese Krankheit hatte ich nie mehr gedacht. Bis ich als Mann, der seiner Frau gerne Kinder geschenkt hätte, zum Arzt ging. Da war dann alles klar. Wir hatten uns dann damit abgefunden und uns zu zweit eingerichtet. So war es irgendwie einfacher, ohne die grosse Verantwortung für eine Familie. Trotzdem ist es schade. Ich hätte gerne etwas weitergegeben. Wenn ich sterbe, kommt niemand mehr nach.
    Gestern hatte ich Geburtstag. Fünfundsechzig. Ich gehe in Pension. Das bedeutet etwas. Es ist ein neuer Lebensabschnitt. Nicht dass man jetzt weniger arbeiten würde, das nicht. Es gibt immer irgendwo etwas zu tun, und ich bin gerne unterwegs, unter den Leuten. Aber jetzt bekommt man regelmässig die Rente. Das entlastet ein wenig. Der Druck lässt nach. So gehöre ich nun also auch zum alten Eisen.
    Trotzdem bin ich immer noch der Kleine. Das hat man davon, wenn man als Letzter in eine grosse Familie hineingeboren wird. Und gewachsen bin ich halt auch nicht mehr gerade viel.»
    Was der Körpergrösse fehlt, wird mit der Ausstrahlung wettgemacht. Das Leuchten in den Augen mit den vielen Lachfalten ringsherum und die lebhaften Armbewegungen, mit denen jeder Satz unterstrichen wird, lassen einen vergessen, dass man sich nicht auf gleicher Augenhöhe befindet. Sein Humor übersteigt das eigene Niveau bei weitem. Man stellt sie sich vor, die ganze Rasselbande hier im Dorf. Der Kleinste immer ganz am Schluss, ein staunender Mitläufer, den es dann immer erwischte, weil er nicht schnell genug war beim Davonrennen. Nachtragend ist er nicht. Trägt auch nicht schwer an seinem schwierigen Leben. Läuft weiterhin hinterher und greift dort zu, wo es etwas zu holen gibt. Er, der Linkshänder, dem dies mit aller Gewalt nicht auszutreiben war, hat sich durchgesetzt, und alles, was recht ist, mit links geschafft. Er ist geborgen in seiner Fröhlichkeit, geboren, um dabei zu sein und die anderen zum Lachen zu bringen.
    «Meine älteren Geschwister hatten ja immer behauptet, ich wäre Mutters Lieblingskind gewesen. Nie hätte ich Schläge abbekommen, meine Suppe hätten immer sie auslöffeln müssen. Dabei bekam ich so viele Schläge ab wie sonst keiner in dieser Familie. Nicht von der Mutter, das war schon richtig. Aber als Kleinster war man auch der Schwächste in dieser ganzen Kette, und an diesem konnte man seine Wut ja auslassen, der konnte sich ja nicht wehren. Kann sein, dass mich die Mutter dann ab und zu getröstet oder in Schutz genommen hatte. Und die Suppe, letztlich waren sie es, die sie mir eingebrockt hatten. Ich bin ja immer leicht zu beeinflussen gewesen und gutgläubig. So bekam ich häufig von den Grossen den Auftrag, dies oder jenes zu tun. Und so naiv, wie ich war, hatte ich nie darüber nachgedacht, ob es falsch oder richtig war, eine solche Anweisung zu befolgen. Ich erfüllte einfach die mir gestellte Aufgabe. Dass es sich dabei aber meistens um eine Dummheit handelte, stellte sich erst im Nachhinein heraus. Die Mama wusste halt auch, dass manche Sachen einem so Kleinen gar nicht selber in den Sinn gekommen sein konnten. Und sie bestrafte die
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